Dem Ziel, einen gemeinsamen Unterricht von nicht behinderten und behinderten Kindern anzubieten, ist Baden-Württemberg einen großen Schritt näher gekommen. Doch der Weg ist noch weit, kommentiert die StZ-Redakteurin Renate Allgöwer.

Stuttgart - Baden-Württemberg schafft die Sonderschulpflicht ab. Eltern können von 2015 an wählen, ob ihre behinderten Kindern eine Sonderschule besuchen oder zusammen mit nicht behinderten Kindern auf eine Regelschule gehen sollen. Dieses Recht ist ein großer und wichtiger Schritt zur Inklusion, zur gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe behinderter Kinder am Schulleben.

 

Es gibt vieles, was für den gemeinsamen Unterricht spricht. Berührungsängste werden abgebaut oder entstehen vielleicht gar nicht, wenn Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam aufwachsen. Wenn beim sogenannten zieldifferenten Unterricht Kindern von Anfang an klar wird, dass nicht alle Menschen dasselbe leisten können und nicht dasselbe Ziel erreichen müssen, sie aber trotzdem alle gemeinsam in einer Schule sein können, wird die Gesellschaft insgesamt humaner. Ohne Zweifel sind alle Schularten gefordert, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Sonderschulen dürfen nicht zweite Wahl werden

Doch die Frage ist, wer den meisten Nutzen vom gemeinsamen Schulleben hat. Nur dabei zu sein genügt für behinderte Kinder in keiner Weise. Es müssen immer die Bedürfnisse des Einzelnen und dessen optimale Förderung im Mittelpunkt stehen. Inklusion ist auch, Kinder in die Lage zu versetzen, ihr Leben, soweit es ihre Einschränkungen zulassen, selbst zu gestalten. Dazu haben die Sonderschulen bisher hervorragend beigetragen. Es wäre ganz falsch, wenn in Zukunft der Eindruck entstünde, Inklusion sei nur an Regelschulen möglich.

Die Landesregierung muss alles dafür tun, damit die Sonderschulen nichts von ihrem ausgezeichneten Renommee einbüßen. Es darf gar nicht erst der Eindruck entstehen, dass Sonderschulen bei der Inklusion zweite Wahl sein könnten. Es kann durchaus im Interesse des Kindes sein, eine speziell für seine Bedürfnisse ausgestattete Schule zu besuchen, um dort so viel wie möglich für das spätere Leben zu lernen. Teilhabe geht schließlich nach der Schule weiter. Es gilt, mit dem Wahlrecht sensibel umzugehen. Diese Entscheidung zu treffen ist gewiss nicht einfach. Je nach Behinderung trägt es auch zum Wohlbefinden eines Kindes bei, wenn es nicht ständig dem Vergleich mit anderen ausgesetzt ist, die weniger Einschränkungen haben.

Die Finanzierung muss noch verhandelt werden

Auch wenn es für das Land teuer wird, die Aufhebung der Sonderschulpflicht darf nicht zur Aufhebung der Sonderschulen führen. Deshalb hat die Regierung recht, sich schrittweise an die Inklusion in den Regelschulen zu machen. Das wird dauern. Noch fehlt es an fast allem. Die meisten Schulen sind schon rein baulich gar nicht in der Lage, behinderte Kinder aufzunehmen. Die Finanzierung muss zwischen Land und Kommunen noch verhandelt werden. Lehrer müssen erst vernünftig fortgebildet werden. Die Ängste und Unsicherheiten sind groß und lassen sich nur durch professionelle Vorbereitung überwinden. Und bis der Tag kommt, an dem an allen Regelschulen mit behinderten und nicht behinderten Kindern zwei Lehrer in der Klasse stehen, werden Jahre ins Land gehen.

Im Moment gibt es gar nicht genügend Sonderpädagogen, um die Ansprüche erfüllen zu können. Vielmehr müssen die Verantwortlichen zunächst Sorge tragen, dass sich das Angebot in der Phase der Umstrukturierung nicht verschlechtert, wenn beispielsweise Sonderpädagogen von Sonderschulen verstärkt an Regelschulen abgeordnet werden. Es darf nicht dazu kommen, dass sie dann an Sonderschulen fehlen und an Regelschulen das Angebot auch nicht ausreicht.

Das Land hat die gute Absicht, das Bildungswesen inklusiv umzugestalten. Dabei werden viele Wünsche offen bleiben. Der Kultusminister kann gar nicht oft genug betonen, dass es nie so sein wird, dass jede Schule jedes Kind mit jeder Behinderung aufnehmen kann. Doch die Weichen für eine gute Entwicklung sind gestellt.