Die Züge sind unpünktlich, die Gewinnerwartungen ernüchternd: die Deutsche Bahn steuert in eine ungewisse Zukunft. Kann Vorstand Lutz das Ruder mit einem geschickten Schachzug herumreißen?

Korrespondenten: Thomas Wüpper (wüp)

Berlin - So hat sich Richard Lutz seine Zwischenbilanz gewiss nicht vorgestellt. Seit anderthalb Jahren ist der Pfälzer Chef der Deutschen Bahn AG – und es läuft längst nicht alles so rund, wie es der Familienvater gerne hätte. Er meidet große Auftritte und setzt sich ungern in Szene. Auch die Bombe zur Einjahresbilanz lässt er deshalb lieber schriftlich platzen – in einer Nachricht an gut 1000 Spitzenmanager des Konzern: Die schwierige Situation der Bahn habe sich in den letzten Monaten „nicht verbessert, sondern verschlechtert“, schreibt Lutz. Da gebe es „leider nichts zu beschönigen“.

 

Nach dem plötzlichen Rücktritt seines Vorgängers Rüdiger Grube übernahm Lutz den Spitzenposten beim größten Staatskonzern in einer schwierigen Lage. Auch die Bundesregierung hoffte, dass die damals schon eingeleiteten Investitions- und Sanierungsprogramme rasch greifen würden. Heute ist klar, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat. Seinen Brandbrief hat Lutz jetzt mit seinem Vize Ronald Pofalla und vier weiteren Vorstandskollegen aufgesetzt. Der Tenor: Es mangelt an Pünktlichkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit. „Wir wissen alle, dass wir mit unserer Leistung nicht zufrieden sein können“, heißt es in der Nachricht.

Nur noch 76 Prozent der Fernzüge mit weniger als sechs Minuten Verspätung

Danach folgt die Ankündigung einer „einschneidenden Maßnahme“. Ab sofort und unbefristet gelte eine „qualifizierte Ausgabensteuerung für den Systemverbund Bahn“. Das habe der Vorstand vorige Woche beschlossen. Bestellungen müssen künftig ab bestimmten Summen genehmigt werden. Als Ausgabenstopp will die DB-Spitze das aber nicht verstanden wissen. Alle sinnvollen und notwendigen Aufwendungen für den laufenden Betrieb und mehr Qualität liefen „selbstverständlich weiter“, betont Lutz. Man werde die langfristige Kundenoffensive „nicht durch kurzfristige Ergebnissteuerung gefährden“, verspricht der Bahn-Chef.

Klar ist: Es gibt weiter zahlreiche Baustellen im Konzern, viele Ziele werden weit verfehlt. So kamen im August nur noch 76 Prozent der Fernzüge mit weniger als sechs Minuten Verspätung ans Ziel. Das sei ein schlechterer Wert als 2015, als der Konzern sein Sanierungsprogramm „Zukunft Bahn“ startete, beklagt Lutz. Damals versprach die DB-Spitze wieder einmal, dass bald alles besser werde. Doch von den schönen Visionen ist bisher wenig Realität geworden. So sei schon klar, dass die Bahn 2018 nicht einmal den schon schlechten Pünktlichkeitswert des Vorjahres erreichen werde, räumt die DB-Spitze ein. Man habe die Verfügbarkeit von Fahrzeugen „schlicht nicht im Griff“, heißt es in dem Brandbrief.

Die schonungslose Analyse der DB-Spitze ist bemerkenswert und durchaus zweischneidig, weil die meisten beschriebenen Defizite nicht erst seit gestern, sondern schon seit vielen Jahren bestehen und beklagt werden. Gerade Lutz kennt die Probleme alle bestens, denn der langjährige Finanzchef und frühere Konzerncontroller arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren im Unternehmen in Führungspositionen.

DB Cargo mit Millionen-Verlust

Der zu knappe und technisch anfällige Fuhrpark gehört mindestens seit der Jahrtausendwende zu den größten Problemfällen der Bahn. Zu lange wurde versäumt, neue Züge zu bestellen, und auch an der Wartung wurde gespart. Im System Schiene sind solche Versäumnisse und Fehler nicht kurzfristig zu beheben und rächen sich oft erst, wenn Verantwortliche nicht mehr im Amt sind.

Das gilt neben dem Personen- auch für den Güterverkehr, den der Konzern lange vernachlässigte. Die DB Cargo ist weiterhin ein massiver Sanierungsfall. Bis zu 200 Millionen Euro Verlust wird die größte Güterbahn Europas in diesem Jahr nach Informationen unserer Zeitung einfahren. „Der Brandbrief von Lutz ist für uns das Eingeständnis, dass das Konzept Zukunft Bahn im Güterverkehr komplett gescheitert ist“, heißt es in Gewerkschaftskreisen.

Bei DB Cargo wird intern die Lage als dramatisch beschrieben. „Die Kunden sind unzufrieden, die Produktionssteuerung funktioniert nicht, der Umbau auf Basis des Sanierungskonzepts hat die Verwerfungen verursacht, vor denen wir gewarnt haben“, sagt ein Insider. Dem neuen Vorstandschef Roland Bosch wird allerdings vonseiten der Konzernspitze gute Arbeit bescheinigt.

Brandbrief löst Unruhe in der Bundesregierung aus

Der frühere Daimler-Manager, der von der DB Netz kam, schaffte es, das äußerst angespannte Verhältnis zu Betriebsrat und Gewerkschaft zu befrieden. Gegen die Rotstiftpläne des früheren DB-Chefs Grube hatte es vor Jahren massive Proteste gegeben, die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat hatte die Umsetzung des Konzepts Zukunft Bahn sogar über längere Zeit blockiert. Am Ende schwenkte die DB-Spitze komplett um – und beschloss, statt anfangs geplanter 5000 Stellenstreichungen mehr als 1000 neue Mitarbeiter einzustellen.

„Dennoch haben die Rotstiftpläne, die ständigen internen Umbauten und mehr als 30 Personalwechsel im Vorstand das Image von DB Cargo über all die Jahre massiv beschädigt“, klagt der Insider. Deshalb sei der Neustart so schwer, viele Kunden hätten die Geduld verloren und seien zu anderen Frachtbahnen gewechselt. Zudem sei es schwer, Mitarbeiter – vor allem Lokführer – für die vielen vakanten Stellen zu finden. Hier müsse auch die Bundesregierung mehr für das Berufsbild und die Ausbildung von Triebwagen- und Lokführern tun und Förderprogramme wie beim Lastwagen und Frachtschiff auflegen.

In der Berliner Koalition hat der interne Brandbrief von Lutz dem Vernehmen nach einige Unruhe ausgelöst. Denn sinkende Gewinne und steigende Schulden des Staatskonzerns sind auch politisch ein heikles Thema. Schon in diesem Jahr könnte der Schuldenberg die Marke von 20 Milliarden Euro erreichen und bis 2023 sogar auf bis zu 25 Milliarden Euro wachsen, heißt es in vertraulichen internen Berechnungen. Damit hätte die DB dann in knapp 30 Jahren ihres Bestehens ein fast so hohes Defizit aufgehäuft wie ihr Vorgänger, die Deutsche Bundesbahn.

Beobachter werten den Brandbrief des Bahnchefs als taktischen Zug

Das Gewinnziel für 2018 hat Lutz jedenfalls schon zweimal auf nun noch 2,1 Milliarden Euro reduzieren müssen. Wenn sich der schlechte Trend fortsetze, stehe auch dieses Ziel „im Risiko“, so der DB-Chef. Eine dritte Gewinnwarnung will er aber vermeiden, denn diese „würde unsere finanzielle Lage weiter destabilisieren“ sowie das Vertrauen der Eigentümer und Öffentlichkeit „weiter beschädigen“, warnt der Manager mit drastischen Worten.

Kritiker sehen sich durch den Brandbrief in ihrer Meinung bestätigt, dass der Konzern auch durch das Großprojekt Stuttgart 21 zunehmend in wirtschaftliche Schieflage geraten könnte. Der Eigenanteil der DB an dem Tunnelprojekt hat sich inzwischen auf mehrere Milliarden Euro vervielfacht. Dennoch wurde mehrfach die Weiterführung beschlossen.

Andere Beobachter werten den Alarm des Bahn-Chefs vor allem als taktischen Schachzug. Und im Schach ist Richard Lutz ausgezeichnet – er spielte in der Zweiten Bundesliga und wurde auch einmal Jugend-Vizemeister. Gerade haben die Verhandlungen der Bahn mit dem Bund über die nächste Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung begonnen. Dieser Vertrag legt fest, wie viele Milliarden Euro Steuergeld der Konzern in den nächsten Jahren für den Erhalt des staatlichen Schienennetzes bekommt, das die Konzerntochter DB Netz verwaltet. Man munkelt, Lutz wolle seine Verhandlungsposition mit dem Schachzug Brandbrief verbessern. Der Bahn-Chef kündigt jedenfalls an, dass der „Systemverbund“ von Netz und Betrieb künftig noch stärker vom Konzernvorstand gesteuert werden soll. Und zwar „unter Beachtung aller regulatorischen Randbedingungen“.

Die Bahn-Wettbewerber, allen voran die Betreiber der Fernbuslinien, werden da die Ohren spitzen. Sie hegen schon lange den Verdacht, dass der Staatskonzern die Zuwendungen aus der Steuerkasse fürs Schienennetz mit Duldung der Regierung unzulässig auch für Zugbetrieb und damit zum eigenen Vorteil nutzt.