Seit dem 1. Januar können die Kosovaren visafrei in die Schengenzone reisen. Die Wirtschaft fürchtet eine Abwanderung von Fachkräften.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Die Ära der endlosen Warteschlangen vor den ausländischen Konsulaten und Botschaften ist in Kosovos Hauptstadt Pristina vorbei. Mit Erleichterung reagieren die meisten der 1,8 Millionen Einwohner des Balkanstaats auf die späte Aufhebung der Visumspflicht bei Reisen ins Schengenreich zu Jahresbeginn.

 

„Wir hätten die Visa-Liberalisierung viel früher verdient“, sagt Habib Spahia überzeugt. Als einer von 20 Gewinnern eines von der Regierung organisierten Quiz zur Aufhebung der Visapflicht brach der Familienvater aus Rahovec am 1. Januar zu einem Kurzurlaub nach Wien auf: „Aber nun fühlen wir uns gut, dass endlich auch wir ohne Visa in Europa reisen können.“

Kosovo ist Nachzügler

Der seit 2008 unabhängige Kosovo ist der letzte EU-Anwärter, dessen Bürger in den Genuss des visafreien Reisens kommen. Für die anderen fünf Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan gilt das bereits seit 2008, für Georgien seit 2011, für die Ukraine und Moldau seit 2013 . Zwar sah Brüssel bereits 2016 die Bedingungen zur Aufhebung der Visapflicht erfüllt, doch verzögerten die Niederlande und Frankreich die Reisefreiheit für die isolierten Bewohner von „Europas letztem Visumsreservat“.

Als „Beseitigung einer großen Ungerechtigkeit“ bezeichnet Kosovos Premier Albin Kurti die Aufhebung. Gleichzeitig ermahnt er seine Landsleute, die für touristische Reisen und Familienbesuche gedachte Visafreiheit nicht zur Arbeitssuche zu missbrauchen. Der „gesamte Westbalkan“ sei nun „mit der Schengenzone verbunden“, feiert der EU-Außenbeauftragte Josip Borrell die „historische EU-Entscheidung“. Beim wortreichen Selbstlob übersieht Europas Chefdiplomat zwei Ausnahmen. In sein Heimatland Spanien, das den Kosovo-Pass noch immer nicht anerkennt, können Kosovaren auch in Zukunft nicht ohne Visum reisen. Zudem bleibt Kosovo-Serben, die über keinen Kosovo-Pass, sondern nur über einen serbischen Sonderpass verfügen, weiter die Reisefreiheit verwehrt.

Auch weil die Kosovaren ab 1. Januar mit ihren von Belgrad zuvor nicht anerkannten Autokennzeichen über Serbien ausreisen können, hat sich ihre Reisefreiheit vergrößert. Doch mit einem monatlichen Nettogehalt von 400 Euro im Schnitt ist das nur für wenige erschwinglich.

Neuwahlen sind nun denkbar

Der Wegfall der Visapflicht erleichtert der Wirtschaft die Erschließung neuer Exportmärkte. Aber Analysten fürchten, dass sich der Aderlass der Fachkräfte vergrößert: Laut dem Riinvest-Institut sind 18 Prozent der heimischen Firmen von ihren Beschäftigten bereits informiert worden, dass sie 2024 kündigen und emigrieren wollen.

Premier Kurti nutzt die Visafreiheit vor allem dazu, die bescheidene Leistungsbilanz und das ramponierte Image seiner Regierung aufzupolieren. Er könnte die Flucht nach vorne wagen: In Pristina mehren sich bereits die Spekulationen über vorgezogene Parlamentswahlen noch in diesem Frühjahr.