Ministerpräsident Wimfried Kretschmann tourt mit einer großen Delegation durch Indien. Er sieht ein Land, das sich zum Aufbruch in die Moderne rüstet.

Mumbai - Gerlinde Kretschmann ist platt: dieser Lärm, diese Enge. Sie könnte auch sagen: dieser Müll überall. Was sie aber sein lässt, schließlich ist sie in offizieller Mission unterwegs und wird in Mumbai als „First Lady of Baden-Württemberg“ empfangen. Auch im Slum von Dharavi. Einen größeren gebe es nicht, behauptet Bhupinder Kumar, ihr indischer Cicerone. Anderthalb Millionen Menschen leben hier auf zwei Quadratkilometern. Manche sagen, es sind etwas weniger Bewohner; Herr Kumar meint, es seien sogar noch mehr. So oder so – ein Gefühl der Beklemmung stellt sich ein.

 

Patriotische Musik plärrt aus einem Lautsprecher. Die Inder feiern den „Republic Day“, ihren Unabhängigkeitstag. Frauen legen auf Strohgestellen Fladenbrot aus: Papadam, das aus Linsenmehl, Salz und Pfeffer hergestellt wird. Auf einem kleinen Platz findet sich ein Schrein, gewidmet dem affenköpfigen Gott Hanuman, dessen rettenden Wirkens sich die Hindus versichern. Magere Hunde streunen umher, Kinder posieren vor den Kameras der kleinen Besuchergruppe um Gerlinde Kretschmann. Bekannt wurde Dharavi durch den Kinofilm „Slumdog Millionär“ aus dem Jahr 2008. Dunkle, feuchte Gassen durchziehen das Viertel, wer den Kopf nicht einzieht, streift die Stromleitungen zwischen den fragilen Häuschen und Hütten. Immerhin: Es gibt Elektrizität, und unter Plastikplanen fristet niemand sein Dasein. Es gibt immer wieder Anläufe, den Slum niederzureißen und an private Investoren zu verkaufen, doch die Bewohner wehren sich. Sie finden hier ein soziales Gefüge, viele betreiben kleine Werkstätten, in denen Frauen Kleider schneidern und Männer Plastikmüll zu Granulat aufbereiten oder Schrott recyceln. Vielleicht muss man sich so ähnlich eine mittelalterliche Stadt Europas vorstellen, jedenfalls die Unterstadt, in der die kleinen Leute lebten.

„Hier existieren Jahrhunderte nebeneinander“

Am Abend vor Gerlinde Kretschmanns Expedition in den Slum von Dharavi sitzt die CDU-Abgeordnete Nicole Razavi im St.-Regis-Hotel und versucht, das Land zu ergründen, das sie im Gefolge von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dessen 120-köpfiger Delegation aus Wirtschaftsleuten, Wissenschaftlern und Politikern besucht. Man feiert die 2015 begründete Partnerschaft zwischen dem indischen Bundesstaat Maharashtra und Baden-Württemberg. Zugleich sind auch die beiden Landeshauptstädte Mumbai und Stuttgart verpartnert. Das Essen ist fein, gleich wird man auf der Terrasse den Kaffee nehmen, oben im 38. Stock hämmert in der Dachbar die Musik. Von dort öffnet sich ein nächtlicher Blick auf die Lichter der Stadt, vielleicht nicht ganz so imposant wie in New York oder Shanghai, aber doch genug für einige Momente des Staunens. „In Indien existieren mehrere Jahrhunderte nebeneinander“, sinniert Nicole Razavi. „Die Menschen sitzen in der Zeitmaschine und rasen täglich hin und her.“ Vom Mittelalter in die Zukunft und wieder retour.

Der Verkehr ist ein Überlebenskampf

Damit drückt die Abgeordnete aus, was Historiker die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ nennen. Wenn Kretschmanns Delegation im Bus über die Hochstraßen Mumbais rumpelt, hat sie das Phänomen im Blick: direkt unter der Straße die Kloake, die einmal ein Fluss war, unmittelbar angrenzend eine Ansiedlung von aufeinander geschichteten Verschlägen, unter denen sich am Flussufer der Müll türmt, dahinter heruntergekommene Wohnsilos, mitunter auch nur Bauruinen, am Horizont aber in der Sonne glitzernde Bürotürme. Wobei das mit der Sonne so eine Sache ist: Der allgegenwärtige Dunst, von dem die Einheimischen sagen, es handle sich um Smog, macht es der Sonne nicht leicht, Mumbai ihre Gunst zu erweisen. Das Abwasser der 20-Millionen-Metropole, so erfährt der Ministerpräsident, fließt komplett ins Meer. Und immer lärmt der Verkehr. Das Hupen ist nicht nur ein Warnsignal im Überlebenskampf auf der Straße, es ist auch ein Akt der Selbstvergewisserung, das trotzige Statement, von diesem Verkehrsmoloch noch nicht verschlungen worden zu sein. Manchmal allerdings versagt die Hupe. Alle 15 Stunden stirbt auf den Straßen Mumbais ein Mensch.

Smog, Staub, Schmutz: Ist das Indien? Wer schon mal da war, winkt ab. „Früher war es schlimmer.“ Da hätten mehr Menschen am Straßenrand oder auf der Straße übernachtet. Das Land habe in den zurückliegenden Jahren einen großen Satz nach vorn gemacht. Zur Lösung der gewaltigen Umweltprobleme, findet Stuttgarts OB Fritz Kuhn, könne die Expertise aus Baden-Württemberg nützlich sein. Verkehrsminister Winfried Hermann sagt: „Wir hatten 100 Jahre Zeit, um eine Wasser- und Abwasserversorgung aufzubauen.“ Stand der Bodensee nicht auch schon auf der Kippe?

Kretschmann geißelt Trumps Protektionismus

Baden-Württemberg und Maharashtra gelten beide als wirtschaftliche Kraftprotze. Zwar verfügt der indische Bundesstaat über zehnmal mehr Einwohner, überdies ist er deutlich größer, doch Ministerpräsident Kretschmann vergisst beim Zahlenvergleich nie das Bruttoinlandsprodukt, das sich in Baden-Württemberg auf 460 Milliarden Euro beläuft, in Maharashtra auf etwa 300 Milliarden Euro. Allerdings wird es dabei nicht bleiben. Indiens Wirtschaft wächst schneller als die chinesische, Kretschmann sieht das Land auf dem Weg zur drittstärksten Wirtschaftsmacht. Da wolle man dabei sein. Zumal, wenn US-Präsident Donald Trump auf wirtschaftliche Abschottung setze. „Dann müssen wir in andere Märkte gehen.“ Die ersten Tage von Trumps Präsidentschaft nennt der Ministerpräsident „provozierend“. Seine Schlussfolgerung: „Wir müssen uns diversifizieren.“ Indien ahoi.

Um den Mittelständlern den Marktzugang zu erleichtern, nimmt Kretschmann weite Reisen auf sich. 2015 nach China, jetzt nach Indien. Er ist ja eher der bodenständige Typ, Fernreisen bringen seine Augen nicht zum Leuchten. Aber wie seine Vorgänger bekennt er sich zur Rolle des Türöffners für die Wirtschaft. „Man muss Flagge zeigen“, sagt er. Wenn sich Regierung mit Regierung treffe, dann „wird es für die Unternehmer einfacher“.

Die Wirtschaft lobt die Reisen der Politik

Zu denen, die diese Gelegenheit nutzen, gehört der Ravensburger Sven Schulz, der als geschäftsführender Gesellschafter das von seinen Eltern gegründete Unternehmen mit sechs Tochtergesellschaften führt. Der 41-Jährige beschäftigt 400 Mitarbeiter und erzielt einen Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro mit der Planung und Konstruktion von Produktionsanlagen oder mit Lithium-Ionen-Batterien für Elektrobusse. Er war auch schon mit hessischen Delegationen unterwegs – und findet solche Reisen gut. Ja, das bringe was. Nein, das Argument vom Türöffnen sei keine Ausrede für reisewütige Politiker. „Ich will einen persönlichen Eindruck von einem Land bekommen“, sagt Schulz. Die Indienreise verschaffe ihm die Gelegenheit, Absatz- und zugleich auch Zuliefermärkte zu studieren, außerdem biete sich die Gelegenheit, in Unternehmen hineinzuschauen. Bei Tata erfuhr er, dass der indische Fahrzeugkonzern zwar Elektrobusse im Programm führt. Doch die Stromversorgung ist nicht stabil.

Um Indien für ausländische Investoren aufzuhübschen, legte die Regierung von Premierminister Narendra Modi zwei Programme auf: „Make in India“ und „Make in India Mittelstand“. Letzteres wendet sich speziell an deutsche Unternehmen. Indien will nicht nur Absatzmarkt sein, sondern auch Produktionsstandort und Exporteur. Fabriken schaffen Arbeitsplätze. Und die braucht das Land mit seiner schnell wachsenden Bevölkerung. Die Zusammenarbeit soll „keine Einbahnstraße sein“, sagt Ministerpräsident Kretschmann. „Auch wir heißen indische Firmen willkommen.“ 50 indische Unternehmen sind schon im Land aktiv, 850 baden-württembergische Firmen wiederum in Indien.

Gerlinde Kretschmann sieht die Schattenseiten des Booms

Indes sieht Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut „keinen Grund zur Euphorie“. Die überbordende Bürokratie hemme den Markteintritt. Korruption ist allgegenwärtig, wenn auch aufgrund der günstigen Tarife kein allzu großes Hemmnis. Wie sagt doch der Liebherr-Manager Günther Hardock: Früher habe er sich zu Hause über Landrats- und andere Ämter geärgert. Nach den indischen Erfahrungen sei er froh, wie planmäßig dort die Dinge abgearbeitet würden. Kretschmann ist begeistert.

Derweil erkundet seine Frau Gerlinde das Souterrain der indischen Gesellschaft, wo es nicht weniger zu entdecken gibt als bei den Streifzügen der Wirtschaftsleute. Zum Beispiel bei Keith und Ramona Dsouza, die mit ihrer Stiftung jungen Frauen – Opfer von Menschenhandel und traumatisiert durch den Missbrauch als Zwangsprostituierte – zu einem neuen Leben verhelfen. Die Mädchen heißen Reshma oder Reena, sie wurden von ihren Eltern verkauft oder von Fremden verschleppt. Nun lernen sie das Schneidern, pauken Englisch, Mathematik und erfahren alles, was sie zu einem selbstständigen Leben benötigen. Die Mode wird von dem gemeinnützigen Stuttgarter Start-up Glimpse Clothing entworfen und vertrieben. Seit Ende Oktober ist die 25-jährige Annika Sauter vor Ort, eine Modedesignerin aus Darmsheim bei Sindelfingen. Zur Begrüßung hatte Gerlinde Kretschmann eine dicke Blumengirlande umgehängt bekommen. Als Hauptbestandteil des Blütenreigens identifiziert Herr Kumar die „Marigold Flower“. Lady Kretschmann kennt sie als „Stinkende Hoffart“, die aber in der indischen Variante anders als in der Heimat gar nicht unangenehm rieche. Das ist für Mumbai, wo zwar vieles duftet, dies jedoch nicht immer angenehm, keine schlechte Erfahrung.