Kretschmann zu 30 Jahre Wiedervereinigung „Wir haben kein Ost-West-Thema mehr“

Winfried Kretschmann in der Stuttgarter Villa Reitzenstein während des per Video geführten Gesprächs mit Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer Foto: Leif Piechowski/Lichtgut

Deutsch-deutscher Gipfel zum Jahrestag der Einheit: Baden-Württembergs und Sachsens Regierungschefs, Winfried Kretschmann und Michael Kretschmer, reden über ihre Erinnerungen, das Erreichte, offene Baustellen – und die Elbe.

Stuttgart/Dresden - Winfried Kretschmann (Grüne) regiert ein „altes“ Bundesland, Michael Kretschmer (CDU) ein „neues“. Ihre Namen klingen erstaunlich ähnlich. Aber sind die Ansichten des Stuttgarter Ministerpräsidenten und seines Dresdner Kollegen zur Lage im wiedervereinigten Deutschland genauso ähnlich?

 

Herr Kretschmann, Herr Kretschmer, die meisten erinnern sich genau, wo sie am Abend des Mauerfalls waren. Was ist mit dem Einheitstag? Wie haben Sie den 3. Oktober 1990 erlebt?

Kretschmann: Ich erinnere mich genau, wie mich die Fernsehbilder gepackt haben, als im November 1989 der Schlagbaum am Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße hochging. Auch als Westdeutscher hatte man ja bei den Fahrten in und durch die DDR die Kälte der SED-Diktatur gespürt. Eine solche emotionale Kraft hatte der Tag der Wiedervereinigung für mich nicht, obwohl er für den Lauf der Geschichte so wichtig war wie der Mauerfall.

Kretschmer: Auch für uns Ostdeutsche war der 9. November 1989 der ergreifendere Moment. Aber ich erinnere mich noch gut, dass wir am 3. Oktober 1990 ein Familienfest in Görlitz organisiert hatten, um zu feiern, dass Deutschland kein geteiltes Land mehr war.

Wie fällt ihre Bilanz der Wiedervereinigung nach dreißig Jahren aus?

Kretschmann: Meine fällt sehr positiv aus. Ich denke an die Elbe, die eine Kloake war und heute sauber durch das wieder so schöne Dresden fließt. So falsch war Helmut Kohls Spruch von „blühenden Landschaften“ nicht. Als ich kürzlich ein paar Tage meine Kollegen in Sachsen und Sachsen-Anhalt besucht habe, hatte ich die ganze Zeit ein Gefühl von Normalität. Da gab es nichts Exotisches oder Fremdes, sondern einfach Regionen mit ihren spezifischen Eigenheiten. Wir haben kein Ost-West-Thema mehr: Schleswig-Holstein hat auch andere Probleme als der traditionelle Industriestandort Baden-Württemberg.

Kretschmer: Die Einheit ist heute selbstverständlich. Wir leben heute im besten Deutschland, das wir je hatten. Vielleicht gelingt es uns jetzt, eine neue Epoche zu beginnen, in der wir nicht mehr über das Trennende sprechen, sondern darüber, was uns verbindet und wir gemeinsam entwickeln wollen. Wenn ich mit Winfried Kretschmann über Industrie, Technologie oder Zukunftsbranchen rede, merke ich: Baden-Württemberg und Sachsen ticken da ziemlich ähnlich.

Lesen Sie hier: Ein Brocken voller Geschichte – der Brocken war ein Symbol der deutschen Teilung

Laut Umfragen fühlen sich aber 59 Prozent der Ostdeutschen immer noch „wie Bürger zweiter Klasse“ behandelt. Woher rührt das Gefühl mangelnder Wertschätzung? Und wie ist ihm zu begegnen?

Kretschmer: Indem man zum Beispiel solche Fragen nicht mehr stellt. Dass die Ostdeutschen sich mehrheitlich ungerecht behandelt fühlen, stimmt einfach nicht. Wir sind froh, dass der Staatssozialismus der DDR zu Ende ist und wir in Freiheit leben können.

Machen Sie es sich da nicht zu einfach? Eine Ministerin Ihres Kabinetts hat 2018 das Buch „Nun integriert doch erst mal uns“ geschrieben, in dem es um die unbewältigten Demütigungen, Kränkungen und Entwurzelungen der 1990er Jahre geht.

Kretschmer: Schon der Titel dieses Buches ist ziemlich schräg. Integrieren muss sich, wer von außen hinzukommt. Aber hier geht es um ein Volk, eine Nation, die wiedervereinigt wurde. Hier muss niemand integriert werden, sondern wir schreiben gemeinsam Geschichte.

Kretschmann: Wir müssen uns immer daran erinnern, was ab 1989 los war. Die Menschen im Osten wollten es so haben wie im Westen. Sie wollten die D-Mark genauso wie das politische System der Bundesrepublik. Dieser Wunsch war übermächtig. Da war kein Platz für einen dritten Weg oder so etwas, was auch mancher in meiner Partei damals befürwortete – mit der unvermeidlichen Folge, dass die nicht konkurrenzfähige DDR-Wirtschaft zusammenbrach. Das hat zu schwersten Verwerfungen und Brüchen geführt, auch im Gefühlsleben der Menschen. Wen soll denn wundern, dass dies nachwirkt?

Lesen Sie außerdem: DDR-Museum in Pforzheim – Einblicke ins Alltagsleben

Baden-Württemberg hat nach der Wende viele Beamte geschickt, um zu helfen. Ex-Ministerpräsident Lothar Späth leitete den einstigen DDR-Vorzeigebetrieb VEB Carl Zeiss Jena – und wurde als „kleiner König von Thüringen“ bezeichnet. War das zu viel des Guten?

Kretschmer: Es sind sehr, sehr viele Menschen in die alte Bundesrepublik gegangen – auf der Suche nach Arbeit und Ausbildung. Und es sind viele Menschen in den Osten gekommen. Ich glaube, wir Deutschen verstehen uns heute auch deshalb viel besser, weil es diese Durchmischung gab. Und für den Osten kann ich hinzufügen: Ohne die Westdeutschen, die mit angepackt und ihre Expertise eingebracht haben, stünden wir heute viel schlechter da. Dieses Gerede von „Wir sind übernommen worden!“ ist dummes Zeug.

Unter den älteren Ostdeutschen hält sich trotzdem hartnäckig das Gefühl, vom Westen kolonialisiert worden zu sein.

Kretschmer: Meine Gespräche bestätigen diesen Eindruck nicht. Natürlich wollen die Leute, dass ihre Lebenserfahrungen und Lebensleistungen anerkannt werden. Wer sie ständig dadurch relativiert, dass er den Leuten einredet „Du bist ein armer Kerl, du arbeitest ja immer noch für viel weniger Geld als dein Westkollege“, der muss sich nicht wundern, wenn diese empfänglich werden für DDR-Nostalgiker.

Kretschmann: Angesichts der großen Umbrüche in Ostdeutschland sollten die Erfolge von AfD oder Pegida nicht allzu sehr überraschen. Man muss sich viel mehr wundern, dass in einem so prosperierenden Land wie Baden-Württemberg 15 Prozent AfD gewählt haben. Es gibt immer Leute, die sich nicht wohl in ihrem Zuhause fühlen, obwohl sie schon ziemlich lange darin leben.

Zwei Krisen prägen die vergangenen Jahre, die Flüchtlings- wie die Corona-Krise haben mit Pegida und Querdenkern Protestbewegungen hervorgebracht: Warum regen die Pandemiemaßnahmen besonders Westdeutsche und speziell Baden-Württemberger auf?

Kretschmann: Das wüsste ich auch gern. In unserem Land sind die Leute große Freiheit gewohnt. Der Staat hat großen Respekt davor, in private Lebensbereiche einzugreifen. Aber bei Corona mussten wir das tun. Dass das auch zu Protesten führt, ist normal. Aber es sind unter zehn Prozent der Bevölkerung, die wirklich Hardcore gegen unseren politischen Kurs bei der Corona-Bekämpfung auftreten. Die sind halt sehr laut und in den Medien sehr wirkmächtig. Aber mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind mit dem Weg, auf dem wir das Land bislang durch die Pandemie geführt haben, zufrieden. Das sollten wir nicht vergessen, wenn einige renitente Schwaben in Berlin demonstrieren.

Herr Kretschmer, in der Flüchtlingskrise waren eher die Sachsen auf der Straße. Wieso?

Kretschmer: Bei Pegida spielte auch ein falscher Umgang mit dem Protest eine Rolle. Zu wenig Bereitschaft zur Diskussion und zur Auseinandersetzung - das haben wir bei Corona anders gemacht.

Wie meinen Sie das?

Kretschmer: Bei Pegida waren nicht nur Leute, die vor Flüchtlingsheimen demonstriert haben. Manche haben erst einmal nur Fragen gestellt: Ist das alles rechtsstaatlich in Ordnung? Werden wir überfordert? Es war falsch und überzogen zu sagen, diese Fragen darf man nicht stellen. Heute machen wir das anders. Damals hat es dazu geführt, dass sich sehr viele Leute solidarisiert haben, die da eigentlich gar nicht hingehörten.

Wo verlaufen die Parallelen zwischen Pegida und Querdenker, wo die Trennlinien?

Kretschmer: Das ist politisch etwas ganz anderes. Vergleichbar ist die Verstärkerwirkung des Internet, also die fast schrankenlose Verbreitung von Unwahrheiten oder Verleumdungen. Gesundheitsminister Jens Spahn und ich sind befreundet und haben uns gemeinsam angeschaut, was über ihn im Netz verbreitet wird. Das ist in einer Weise bösartig, die sich nur schwer beschreiben lässt. Der ganze furchtbare Dreck der alten und neuen Nazis wird über ihm ausgekippt.

Kretschmann: Eine Parallele zwischen beiden Bewegungen ist, dass Rechtsextremisten hier wie dort versuchen den Protest zu instrumentalisieren. Das ist das eigentlich Beunruhigende. In dieser Republik darf man alles kritisieren, selbst wenn die Kritik unsinnig ist. Aber man muss schon von Leuten erwarten können, die an solchen Demonstrationen teilnehmen, sich von extremistischen Kräften zu distanzieren.

Sie sehen wie beim Rechtsextremismus offenbar nur noch gemeinsame Aufgaben. Gilt das ökonomisch auch? Die Wirtschaftskraft im Osten verharrt seit Jahren bei knapp 80 Prozent des Westniveaus, der Mittelstand ist kleiner, die Tarifbindung geringer.

Kretschmer: Wir haben nach 30 Jahren die Einheit Deutschlands erreicht – in den Köpfen und materiell. Wir können uns jetzt gemeinsamen Zukunftsaufgaben widmen, bringen dafür reichlich Erfahrung aus den Aufbaujahren mit und können auch aus Fehlern lernen. Wir sind in der Vergangenheit sicher manches zu bürokratisch und unflexibel angegangen. Wir waren im Osten immer dort erfolgreich, wo wir konsequent auf Innovation und Wissenschaft gesetzt haben. Überall, wo dieser Weg eingeschlagen wurde, gibt es heute Unternehmensansiedlungen.

Kretschmann: In Forschung, Entwicklung und ein gutes Hochschulwesen zu investieren, ist für alle Bundesländer entscheidend – die Fragen sind überall dieselben: Wie fördern wir Start-ups, wie erleichtern wir den Transfer von Wissen in die Praxis. Der Klimawandel macht erst recht keinen Ost-West-Unterschied – die Trockenheit der Wälder ist für uns alle eine Gefahr. Und auch die Transformation der Autoindustrie, die in Sachsen ebenfalls 30000 Arbeitnehmer in der Zulieferindustrie beschäftigt, lässt sich nur Schulter an Schulter bewältigen. Ich freue mich übrigens, dass ich in Michael Kretschmer bei all diesen Fragen einen wackeren Mitkämpfer für den Föderalismus habe.

Warum?

Kretschmann: Wir haben in der Corona-Krise mehr denn je gezeigt, dass der Föderalismus eine Stärke dieser Republik ist und nicht mit Begriffen wie „Kleinstaaterei“ und ähnlichem Unsinn in Verbindung gebracht werden sollte. Wenn wir weiter mit starken Bundesländern - mal in Kooperation, mal im Wettbewerb - um die besten Lösungen ringen, muss uns für die Zukunft nicht bange sein.

Und braucht das föderale System nach 30 Jahren Einheit vielleicht ein weiteres Update?

Kretschmer: Wir sollten die Kompetenzen von Bund und Ländern wieder klarer trennen. Neue Herausforderungen haben viele Mischfinanzierungen hervorgebracht – das unterhöhlt auf Dauer die Eigenverantwortung und berührt Grundfragen der Gesellschaft: Wie sehr vertrauen wir dem Staat, wie sehr auf den Einzelnen? Welche Verantwortung treten wir an die nächsthöhere Ebene ab? Wenn der Zentralstaat zu viele Aufgaben hat, kann er seine Versprechen nicht alle halten – das muss in einer Enttäuschung enden.

Sie beide zeigen viel Einheit zum Einheitstag. Vielleicht aber nicht in der Außenpolitik, wo die alten Prägungen fortzuleben scheinen. Ihre Grünen, Herr Kretschmann, fordern aktuell mehr Härte gegenüber Russland, Sie, Herr Kretschmer, lehnten das zuletzt völlig ab. Wie kommt das?

Kretschmer: Auch wenn unsere Namen ähnlich klingen, und manche Aussagen auch - wir gehören schon verschiedenen Parteien an.

Mit Verlaub, ist das nicht weniger ein parteipolitisches als ein ostdeutsches Thema? Sie haben vergangenes Jahr Wladimir Putin getroffen und kämpfen wie Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern für den Weiterbau der Ostseepipeline Nord Stream II.

Kretschmer: Ja, ich bin der Meinung, dass wir dieses Erdgas dringend brauchen – aber es gibt auch ostdeutsche Parteifreunde wie Arnold Vaatz, der eine andere Sichtweise vertritt.

Kretschmann: Als Horst Seehofer noch Ministerpräsident in Bayern war, ist er auch zu Putin geflogen – insofern machen das nicht nur ostdeutsche Kollegen, obwohl der Bund für die Außenpolitik zuständig ist. Ich käme nicht auf diese Idee und beneide die Kanzlerin nicht um die Telefonate mit diesen Herrschaften, ob sie nun Orban, Trump oder Putin heißen. Wer direkt betroffen ist wie die Kollegin Schwesig, sollte sich aber natürlich auch einbringen dürfen. In Fragen, die unsere direkten Nachbarn Österreich, die Schweiz oder das Elsass betreffen, kümmere auch ich mich um ein kleines Feld der Außenpolitik.

Polen und Tschechien sind Ihre Nachbarn, Herr Kretschmer: In der Flüchtlingspolitik sind mit diesen EU-Partnern wie auch mit Ungarn die tiefsten Gräben aufgerissen. Hat sich Deutschland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs besser wiedervereint als Europa?

Kretschmer: Wir sind ein Volk, auch wenn die DDR-Führung immer anderes behauptete. Und in Europa sind wir verschiedene Völker, die nicht ganz so leicht wieder zusammenfinden wie wir. Unser Glück war, dass es viele Menschen und Familien gab, die den Kontakt während der Teilung aufrechterhalten haben. Diese Verbindungen gab es mit Polen und Tschechien auch, aber eben in geringerem Umfang – und das merkt man auch.

Trotz aller Einheit ist immer noch von alten und neuen Ländern die Rede. Wie lange noch?

Kretschmer: Mich stört die Bezeichnung nicht. Ich fühle mich mit 14 Jahren DDR-Erfahrung auch als „Ostdeutscher“ im Sinne einer geografischen und einer Identitätsbeschreibung. Damit ist aber weder eine Herabsetzung noch eine Überhöhung verbunden.

Kretschmann. Vielleicht nimmt man sich irgendwann vor, diese Begriffe nicht mehr zu verwenden. Aber sie sind eingeführt. Und wenn es nichts Schlimmeres gibt zwischen Ost und West als die gegenseitigen Bezeichnungen, halten wir das gut aus.

Weitere Themen