Bei der Frankfurter Buchmesse stehen normalerweise Autorinnen und Autoren im Mittelpunkt. In diesem Jahr machen ihnen KI-basierte Sprachmodelle Konkurrenz. Was bedeutet das für die Zukunft der Verlagsbranche und des Literaturbetriebs?

Kultur: Stefan Kister (kir)

Auf der Frankfurter Buchmesse, die ihr 75-jähriges Bestehen feiert, wird neben den üblichen Akteuren dieses Mal ein stiller Gast eine der Hauptrollen spielen. Er lässt sich nicht fassen, könnte aber die gesamte Branche auf nie da gewesene Weise durcheinanderwirbeln. Das Gespenst, das hier umgeht, hat keinen Körper, sondern besteht eigentlich nur aus einer Wolke von Daten, es hört auf Namen, die sich aus Initialen zusammensetzen, dessen umfassendster auf KI lautet.

 

In früheren Jahren waren den Anwendungen der Künstlichen Intelligenz in den Medien und im kreativen Bereich auf der Messe noch Spezialpanels vorbehalten. Seit Sprachmodelle wie ChatGPT eine breite Öffentlichkeit erreicht haben und jeder sich diktieren lassen kann, was bisher Gegenstand seiner Erfindungskraft war, ist das Thema in den Mittelpunkt gerückt. Wer in die Suchmaske der Messe den Begriff „Künstliche Intelligenz“ eingibt, erhält über 80 Treffer. Veranstaltungen, die um die Frage kreisen, was kann, was darf ein Algorithmus entscheiden – und was nicht.

Die erste Form, in der Lesende bisher mit KI in Berührung kamen, waren die algorithmischen Empfehlungssysteme, wie sie etwa den Aufstieg des Internetbuchhändlers Amazon begleitet haben. Auf das Auskundschaften von Geschmacksvorlieben folgt nun als nächster Schritt die gezielte Produktion, sie zu befriedigen. Hierbei könnten Sprachmodelle eine zentrale Rolle spielen.

Die Suche nach dem Erfolgscode

Bei Gebrauchstexten ist die Funktionalität von KI unbestritten, anders sieht es auf dem Feld der Literatur aus. Seit geraumer Zeit arbeiten Start-ups daran, den Bestsellercode zu knacken. Das Hamburger Unternehmen Qualifiction wirbt damit, Bucherfolge vorhersagen zu können. Das Programm wurde gefüttert mit deutschen Bestsellern der letzten 15 Jahre. Kriterien sind unter anderem Genre, Thema, Innovation, Handlungskurve, Satzlänge, Diversität im Vokabular und vor allem möglicher Absatz. Bisher mit überschaubarem Erfolg.

Ob aber ein solches System in der Lage gewesen wäre, beispielsweise die Bedeutung eines Manuskripts wie „Harry Potter“ zu erkennen? Der Autor, Verleger und Vice President der Buchmesse, Holger Volland, ist skeptisch. „Diese Mischung aus Thriller und Zauberei, die sich nicht nur an Jugendliche, sondern auch Erwachsene richtet, war damals ein völlig neues Muster und wäre mit Sicherheit aussortiert worden.“

Aufblähung und Zersplitterung

Seit Jahren beschäftigt sich Volland mit KI, „Die kreative Macht der Maschinen“ ist der Titel eines seiner Bücher. Gerade schreibt er an einem neuen über generative KI und nutzt dabei die Möglichkeiten dieses Werkzeugs: als Rechercheinstrument oder um sich wissenschaftliche Paper übersetzen oder zusammenfassen zu lassen. „Das ist nützlich und hilfreich, aber was generative KI nicht kann, ist interessant schreiben oder neue überraschende Themen finden.“ Diesem Befund entgegen steht allerdings die rasante Entwicklungsgeschwindigkeit auf diesem Gebiet.

Der Buchwissenschaftler Christoph Bläsi lehrt an der Mainzer Gutenberg-Universität, deren Namen an einen anderen Quantensprung in der Welt des Geistes erinnert. Er erwartet, dass die neuen Systeme zu einer enormen Produktivitätssteigerung im Verlagswesen führen werden, bei zugleich immer weniger originellen Titeln. „Die Bedeutung von Empfehlungstools wird steigen, was die Filterblasenbildung verstärkt. Aufblähung und Zersplitterung gehen Hand in Hand.“ Und das bei jetzt schon 80 000 Neuerscheinungen pro Jahr.

Diebstahl von geistigem Eigentum

Was die Entwicklungseuphorie bremsen könnte, sind rechtliche Fragen. Den Daten, mit denen die Tech-Konzerne ihre KI-Modelle trainieren, liegen ungeahnte Mengen geschützter Werke zugrunde. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels spricht von Urheberrechtsverletzungen in bisher nicht da gewesenem Ausmaß und fordert eine Klarstellung durch den europäischen Gesetzgeber. Gerade läuft ein Verfahren des Europäischen Schriftstellerverbands gegen Google, denn ein Teil des Trainingsmaterials für dessen generative KI stammt aus einer sogenannten Schattenbibliothek, gestohlenen Büchern im Netz. Umgekehrt könnten Verlage künftig ein Interesse haben, immer breitere Rechte von Autorinnen und Autoren einzukaufen, zum Beispiel für automatisierte Vorlese- oder Übersetzungsfunktionen. Vielleicht gehört dazu bald auch das Recht am eigenen Stil.

Die Übersetzerin und Autorin Claudia Hamm nimmt angesichts des Datenhungers der Sprachmodelle kein Blatt vor den Mund: „Ich betrachte das als Diebstahl von geistigem Eigentum, auf dem das Geschäftsmodell aller Urheber und der Verlage beruht.“ Literarische Übersetzer könnten von der schönen neuen Welt besonders betroffen sein, etwa wenn sie künftig nur noch als Nachbearbeiter maschinengenerierter Rohlinge fungieren müssten.

Trotz solcher Bedenken sieht Holger Volland zahlreiche Einsatzfelder bei Verlagen: bei der Vermarktung, wenn es darum geht, für den Buchhandel, stationär oder online, unterschiedliche Zusammenfassungen zu liefern. Oder bei der Verwaltung von Content. Dass die Leistungen der KI ihren Anwendern über den Kopf wachsen könnten, befürchtet er nicht, Angst machen ihm die monopolistischen Bestrebungen der Tech-Konzerne. „Es gibt keine KI, die den Willen hätte, irgendeinen Job oder gleich die ganze Menschheit abzuschaffen, aber es gibt sehr wohl Unternehmen, die damit zündeln, Software zu entwickeln, die in immer weitere Teile unserer Arbeitswelt und Gesellschaft vordringt.“