Was ist eigentlich das Böse? Der irische Kulturwissenschaftler Terry Eagleton erkundet eine allzu oft verleugnete Kategorie.    

Stuttgart - Wenn ein Kulturtheoretiker wie Terry Eagleton einen Essay über "Das Böse" veröffentlicht, überrascht das zunächst. Lange Zeit hatte es den Anschein, diese Kategorie wäre in der Moderne auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt worden.

 

Sie galt als überholtes dogmatisches Relikt aus Theologie und Metaphysik, das durch nüchternere wissenschaftliche Begriffe ersetzt werden sollte. An die Stelle des Gegensatzpaars von Gut und Böse trat in den Biowissenschaften das von gesund und krank, in den Sozialwissenschaften das von normalem und abweichendem Verhalten.

Das Feld, das die seriösen Wissenschaften geräumt haben, ist inzwischen von der Kunst und der Popkultur besetzt worden. Während der Teufel sich seit der Aufklärung in Universitäten und Akademien nicht mehr blicken lassen darf, feiert er seit de Sade, Poe und Baudelaire in der Literatur fröhliche Urständ und genießt in Hardcore-Pornos, Splatter-Filmen oder Videoclips von Heavy-Metal-Bands geradezu Kultstatus. Dort gilt das Gute als langweilig, das Böse hingegen als interessant.

Literarische Beispiele für die Theorie des Bösen

Doch immer dann, wenn ein Terroranschlag wie jüngst in Oslo, ein Amokläufer oder ein Serienmörder die Öffentlichkeit in Fassungslosigkeit stürzt, taucht der Begriff des Bösen auch im Jargon der Politiker und Leitartikler wieder auf. Sie sprechen dann in einer dämonisierenden Redeweise vom "Reich des Bösen" und tun so, als habe man es mit einem völlig unerklärbaren Phänomen zu tun.

Keiner von ihnen weiß mehr, dass es seit zweieinhalbtausend Jahren eine differenzierte theologische und philosophische Debatte über das Böse gibt. Dieser bedauerlichen Ignoranz wollte die in Berlin lebende amerikanische Philosophin Susan Neiman mit ihrem Buch "Das Böse denken - Eine andere Geschichte der Philosophie" (deutsch 2004) abhelfen, und der irische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton folgt ihr in dieser Absicht jetzt mit seinem Essay "Das Böse".

Neimans Buch ist systematisch angelegt und will zeigen, dass gerade die Philosophie der Moderne seit Leibniz und Rousseau, Kant und Hegel, Marx und Freud nur von ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Bösen her zu verstehen ist. Eagletons Studie ist essayistischer gehalten; als Literaturwissenschaftler verdeutlicht er seine Theorie des Bösen bevorzugt an literarischen Beispielen.

Rehabilitiert Eagleton die Lehre von der Erbsünde?

Es treten auf: die Hexen aus Shakespeares "Macbeth" und die Figur des Jago aus dessen "Othello", der Satan aus Miltons "Verlorenem Paradies", der Vicomte de Valmont und die Marquise de Merteuil aus Choderlos de Laclos' "Gefährlichen Liebschaften", Mephisto aus Goethes "Faust", Adrian Leverkühn aus Thomas Manns "Doktor Faustus" und weitere Romanhelden aus Büchern von Fjodor Dostojewski, William Golding und Graham Greene.

Aber gleichzeitig bezieht Eagleton als bekennender Linkskatholik auch die theologische Diskussion in seine Erörterung mit ein: den Apostel Paulus, den Kirchenvater Augustinus und den mittelalterlichen Scholastiker Thomas von Aquin.

Vor diesem Hintergrund riskiert Terry Eagleton eine Rehabilitierung der theologischen Lehre von der Erbsünde, die er aus der Perspektive der psychoanalytischen Lehre vom Todestrieb interpretiert: "Bei Freud übernehmen Verdrängung und Neurose die Rolle, die bei den Christen traditionell der Erbsünde zufällt. Nach beiden Lehren wird der Mensch also krank geboren... Beide Glaubenssysteme sind mit Phänomenen befasst, die letztlich über die Grenzen des menschlichen Wissens hinausreichen, egal, ob es sich um das rätselhafte Unbewusste oder einen unergründlichen Gott handelt."

"Bloße Existenz heißt, schuldig zu sein"

Das führt Eagleton zu einer doppelten Kritik sowohl an den Konservativen wie an den Liberalen: Die Konservativen "glauben an die Erbsünde, aber nicht an die Erlösung, während einige Liberale beim Blick durch ihre rosarote Brille zwar die Erlösung, aber nicht die Erbsünde sehen". Eagleton wendet sich gegen den humanistischen Optimismus, der behauptet, wir lebten in der Moderne in der besten aller möglichen Welten; aber er teilt auch den misanthropischen Pessimismus der Konservativen nicht, der jede Verbesserung des Menschengeschlechts an dessen angeborener Schlechtigkeit scheitern sieht.


"Radikale müssen hier einen heiklen Balanceakt vollbringen. Einerseits müssen sie Ausmaß und Hartnäckigkeit menschlicher Verderbtheit in der Gegenwart schonungslos und realistisch ansprechen... Andererseits kann die Verderbtheit nicht so groß sein, dass jegliche Veränderung ausgeschlossen wäre."

Wie Kierkegaard, Benjamin und Adorno begreift Eagleton die Erbsünde als "Schuldzusammenhang von Lebendigem" (Walter Benjamin): "Bloße Existenz heißt, schuldig zu sein." Die Erbsündenlehre erlaubt es uns, Terrorattentäter, Amokläufer und Serienmörder nicht wie die Konservativen als unerklärbare Monster zu dämonisieren, sondern ihre Taten sehr wohl soziologisch und psychoanalytisch aus der Condition humaine zu erklären - ohne dabei wie die Liberalen der Parole "Alles verstehen heißt alles verzeihen" zu verfallen.

"Diesem Buch liegt die Auffassung zugrunde, dass das Böse nicht völlig rätselhaft ist, wohl aber die Grenzen alltäglicher sozialer Verhältnisse transzendiert. Das Böse... ist tatsächlich metaphysisch, insofern es sich gegen das Sein als solches wendet und nicht gegen diesen oder jenen seiner Teile. Grundsätzlich will es das Ganze vernichten."

Für das Böse gibt es nur einen Ausweg aus der Kränkung

Das Böse will das Hineingeborensein in kreatürliche und soziale Zusammenhänge nicht anerkennen. Die Ursünde ist, wie schon bei Luzifer, das Streben nach totaler Autonomie, die Illusion, nicht sterbliches Geschöpf, sondern unsterblicher Schöpfer zu sein.

"Das Ich, das nicht Wir sein kann" hieß ein Vortrag auf dem kürzlich in Stuttgart tagenden Hegel-Kongress, und diese Formel beschreibt sehr gut, was Terry Eagleton unter dem Bösen versteht. Das Böse kann es nicht ertragen, von anderen (von Gott) abhängig zu sein und ihnen (ihm) ihr Leben zu verdanken: "Das Böse glaubt, es sei vollkommen selbstständig, es erzeuge sich selbst aus dem Nichts, tatsächlich aber ist es keineswegs sein eigener Ursprung. Irgendetwas war schon immer vorher da."

Aus dieser narzisstischen Kränkung gibt es für das Böse nur einen Ausweg: Zerstörung und Selbstzerstörung als "die einzige Möglichkeit, Gottes Schöpfung zu übertrumpfen". Die Antwort des Guten auf die narzisstische Kränkung besteht dagegen darin, das Bewusstsein der eigenen Kreatürlichkeit und sozialen Verflochtenheit zu verwandeln in Solidarität und Nächstenliebe.


Autor

Der 1943 in Manchester geborene Terry Eagleton hat irische Wurzeln, besuchte als Kind eine katholische Klosterschule und lehrt heute Kulturtheorie an der Lancaster University und englische Literatur an der National University of Ireland. Als überzeugter Marxist und bekennender Katholik beschäftigt er sich in seinen Büchern sowohl mit literaturtheoretischen als auch mit theologischen Themen. Dieses doppelte Festhalten an der Orthodoxie hat ihn zu einem prominenten Kritiker des postmodernen Zeitgeists werden lassen, mit dem er in seinem Buch "Die Illusionen der Postmoderne" (deutsch 1997) gründlich abgerechnet hat.

Buch

Auch in seinem neuen Essay stößt man auf die Verbindung von marxistischer Gesellschaftskritik, Psychoanalyse und theologischen Denkfiguren. (Terry Eagleton: Das Böse. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Ullstein Verlag, Berlin. 208 Seiten, 18 Euro.)