An diesem Tag mit typischem Schwedenwetter im August steigt Martin Huber bei sich daheim in Lerum aufs Dach. Wind, Wolken, Sonne, ab und zu ein paar Regentropfen. Der gebürtige Ludwigsburger lebt seit fast 25 Jahren in dem Nest in der Nähe von Göteborg. Er und seine Familie bewohnen ein ehemaliges Schulhaus, Baujahr 1912, das genau so aussieht, wie sich viele Mitteleuropäer ein Gebäude in Schweden vorstellen: Holzvertäfelte Wände, weiß gestrichene Fensterläden, eine sattgrüne Wiese vor der Tür.
Der Mann aus Schwaben klettert auf das Gerüst, das seit Jahren am Schulhaus steht. Denn an dem alten Gebäude gibt es immer wieder etwas zu reparieren. Das Radio meldet, ein heftiger Sturm sei im Anflug. Alle Bewohner des Großraums Göteborg sollten ihre Gebäude sichern. Huber steigt aufs Dach und reinigt die Regenrinnen. Das Laub der alten Bäume, die im Garten stehen, muss raus aus den Röhren. Andernfalls läuft das Wasser über, dringt ins Mauerwerk und verursacht womöglich große Schäden. Alles schon passiert, sagt der Wirtschaftsingenieur, der bei Husqvarna in einer Entwicklungsabteilung arbeitet.
Leben, wo andere Urlaub machen
Martin Huber, Jahrgang 1969, hat nach dem Abitur am Mörike-Gymnasium in Ludwigsburg und dem Zivildienst beim Roten Kreuz in der Barockstadt zunächst in Siegen und dann in Göteborg studiert. Er ist hängengeblieben in dem Land, das für viele Menschen ein Sehnsuchtsziel ist. Er hat zwei Söhne aus erster Ehe: Jesper (21) und Simon (19). Zudem haben er und seine tschechische Frau Jana die beiden Töchter Emily (sechs) und Selma (drei). In dem alten Schulhaus ist oft ordentlich was los.
Zwei Zimmer im ersten Stock hat Simon komplett in Beschlag genommen, denn Jesper ist kürzlich ausgezogen. Im Erdgeschoss liegen in den meisten Zimmern auf dem Boden Spielsachen der beiden Mädchen. Und an den Wänden hängen viele Kunstwerke. Bilder, die Martin Hubers 2009 verstorbener Vater Heinz Huber (Künstlername „Hulu“ für Huber-Ludwigsburg) gemalt hat. Über dem Esstisch prangt die imposante evangelische Kirche am Ludwigsburger Marktplatz. Für den Besucher ist das alte Schulhaus auch ein kleines Kunstmuseum.
Der Jurist Heinz Huber war gut ein Vierteljahrhundert lang, bis 1991, als Referatsleiter quasi die rechte Hand von drei Ludwigsburger Oberbürgermeistern: Von Anton Sauer, von Otfried Ulshöfer und von Hans Jochen Henke. „Hulu“ war zudem Pressesprecher der Stadt und auch deshalb bestens vernetzt in Ludwigsburg. Gemalt habe sein Vater, seit er denken könne, erzählt Martin Huber. Irgendwann hat Heinz Huber dann auch angefangen, Holzskulpturen anzufertigen, übergroße und kleinere, die meisten in seinem Haus beziehungsweise im Garten in Oßweil. Mit der Pensionierung begann eine nimmermüde Schaffensperiode, es entstanden ungezählte Werke. „Hulu“ hat einige Ausstellungen bestückt. Eine seiner Skulpturen steht nun im Esszimmer im alten Schulhaus in Lerum: Ein Mann in Sportklamotten, der seine Arme in die Höhe reckt. Auf seinem Shirt ist eine große Ziffer zu lesen. Die eins. Es musste wohl unbedingt die eins sein. Diese Person, erzählt der Sohn des Künstlers und lacht, solle ein berühmt-berüchtigtes Ludwigsburger Original darstellen – den ehemaligen Lokalchef der „Ludwigsburger Kreiszeitung“, Wilfried Simonis. Auch zu erkennen am rundlichen Bauch.
„Hulu“ hat im Ruhestand viel experimentiert, mit Stilen und mit Farben, mit Techniken und Materialien. Viele Gemälde und Bilder sind abstrakte Werke. In einem Zimmer unter dem Dach des alten Schulhauses lagern geschätzt gut einhundert Gemälde von Heinz Huber, der zusammen mit Simonis und ein paar weiteren Gleichgesinnten die Ludwigsburger Städtepartnerschaft mit Jevpatorija ins Leben gerufen und dann auch begleitete hat.
Schweden und der Ukraine-Krieg
Ausgerechnet Jevpatorija: Es liegt auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. Schweden will wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine so schnell wie möglich in das westliche Verteidigungsbündnis Nato aufgenommen werden. Wenn der Künstler, Vater und Wegbegleiter der Partnerschaft noch lebte, wäre er vermutlich todtraurig. Martin Huber erzählt, dass der Krieg im schwedischen Alltag ein weit wichtigeres, größeres Thema sei als in Deutschland. In Schweden fühlten sich viele Menschen akut bedroht.
Zurück zum Stückchen Ludwigsburg in Schweden und in die Lerumer Idylle. Eins der Bilder im Schulhaus, Titel „Pressefrau bei Presseschau“, erinnert an des Vaters Tätigkeit als Pressesprecher. Der 1928 geborene Künstler hat für diese Collage auch eine Seite der Lokalzeitung verwendet. Wer genau hinschaut liest: „Mann+Hummel wächst und schafft neue Jobs“.
Martin Huber sagt, dass er seit dem Tod seiner Eltern, die Mutter ist vor drei Jahren verstorben, nicht mehr so oft nach Ludwigsburg komme. Wegen der beiden kleinen Töchter, die dreisprachig aufwachsen, wegen der weiten Entfernung, und weil Schweden eben sehr schön sein. Die Hubers bauen sich zurzeit ein Ferienhaus am Vänern, dem größten See Schwedens, das sie zeitweise selbst bewohnen und manchmal vermieten wollen. Zudem ist die Familie immer im Sommer für ein paar Wochen bei den Schwiegereltern in Tschechien. Dafür kommen regelmäßig Freunde aus der alten schwäbischen Heimat zu Besuch.
Schweden – soziale Probleme nehmen zu
Schweden, sagt Martin Huber, sei weltoffen, viele Menschen seien positiv eingestellt. Ein glückliches Land? „Auch in Schweden hat sich manches geändert.“ Es gebe mehr soziale Probleme als vor 30 Jahren. In der nächsten Zeit wollen Jana und Martin Huber mit den beiden Töchtern trotz der Entfernung wieder nach Ludwigsburg reisen, vielleicht im Herbst. Im Haues des Vaters in Oßweil, das Martins älterer Brüder Peter übernommen hat, lagern noch weit mehr als 1000 Gemälde und Skulpturen.
Vielleicht, sagt Martin Huber, könnten die Bilder und Skulpturen versteigert werden und die Einnahmen einem guten Zweck zukommen. Heinz Huber hätte zu Lebzeiten vermutlich dafür plädiert, das Geld bedürftigen Menschen in der Partnerstadt auf der Krim zu geben. Doch das kommt derzeit wegen der politischen Verhältnisse auf der Krim für den Wahl-Schweden, der einst in Ludwigsburg sein Abitur gemacht hat, sicher nicht in Frage.