Der „Gang nach Stuttgart“ ist nun möglich: Wer sich in seinen Rechten verletzt fühlt, kann künftig vor den Staatsgerichtshof in Stuttgart ziehen. Grün-Rot eröffnet den Weg zur Verfassungsbeschwerde.

Stuttgart - Dass die grün-rote Landesregierung für die eine oder andere Überraschung gut ist, hat sich im vergangenen April gezeigt, als Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) die Idee einer Landesverfassungsbeschwerde aufbrachten. Dem Kabinett präsentierten sie einen Gesetzentwurf, der den in jahrzehntelanger Praxis eingeübten „Gang nach Karlsruhe“ (zum Bundesverfassungsgericht) künftig durch den Weg nach Stuttgart (zum Staatsgerichtshof) ergänzt. Justizminister Stickelberger zeigte sich am Mittwoch bei der Einbringung des Gesetzentwurfs in den Landtag überzeugt, dass mit dem neuen Rechtsmittel „die integrative Kraft unserer Landesverfassung gestärkt wird“.

 

Die Opposition im Landtag sah das nüchterner. Er habe nicht den Eindruck, „dass uns in den vergangenen 60 Jahren etwas gefehlt hat“, merkte der CDU-Rechtspolitiker Bernd Hitzler an. Rechtsschutz sei in der Bundesrepublik ausreichend vorhanden. Weil aber die Mehrzahl der Bundesländer über das Instrument der Landesverfassungsbeschwerde verfüge, wolle sich die CDU dem Anliegen der Landesregierung nicht verschließen, zumal schon der frühere Regierungschef Günther Oettinger mit der Sache geliebäugelt habe. Er sei nur nicht mehr dazu gekommen.

Diese Darstellung wies der FDP-Landtagsabgeordnete Ulrich Goll zurück. Die Landesverfassungsbeschwerde gebe es nur deshalb noch nicht, weil er sie in seiner Zeit als Justizminister verhindert habe. Goll verhehlte nicht, dass er das Vorhaben für unnötig wie einen Kropf hält. „Wenn es unnötig ist, ein weiteres Stück Staat zu schaffen, dann ist es nötig, kein weiteres Stück Staat zu schaffen“, sagte Goll. Den Grundrechtsschutz gewähre das Bundesverfassungsgericht, dazu komme noch der Europäische Gerichtshof, damit sei dem Grundrechtsschutz durchaus Genüge getan, betonte Goll.

Solidarische Betroffenheit zählt nicht

Handelt es sich bei der Landesverfassungsbeschwerde also nur um Lyrik aus dem Poesiealbum der Gehörtwerdens? Ja und Nein. Es steckt schon auch ein Stück harte Prosa in dem Gesetzentwurf. Was die Grundrechte angeht, verhält es sich so: die Landesverfassung verfügt über keinen eigenen Katalog an Grundrechten. Sie verweist in Artikel zwei summarisch auf den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Diese sind Bestandteil der Landesverfassung und unmittelbar geltendes Recht. Wer sich in diesen Grundrechten verletzt fühlt, kann künftig alternativ das Bundesverfassungsgericht anrufen oder eben den Staatsgerichtshof in Stuttgart. Darauf hätte auch verzichtet werden können.

Zugleich weist die Landesverfassung jedoch auch eine überschaubare Anzahl von Rechtspositionen auf, die im Grundgesetz nicht vorgesehen sind. Dazu gehört, ein Beispiel nur, die in Artikel 14 der Landesverfassung garantierte Lernmittelfreiheit. In der Vergangenheit gab es auf dem Instanzenweg der Verwaltungsgerichtsbarkeit Urteile zu der Frage, ob gewisse Eigenbeiträge der Eltern gegen die Lernmittelfreiheit verstoßen – oder eben nicht. Die Landesverfassungsbeschwerde bietet künftig nach Ausschöpfung der Fachgerichtsbarkeit ein weiteres, letztes Rechtsmittel an. Vergleichbares gilt für das Wahlrecht, sofern es den Landtag und die kommunalen Parlamente betrifft. Vor allem aber im Bereich Schulen, Hochschulen und Erziehung erkennt Justizminister Stickelberger „Rechtsschutzlücken“, die geschlossen werden sollen. Um eine Popularklage handelt es sich indes nicht. Klagen kann nur, wer persönlich und unmittelbar durch einen Akt der baden-württembergischen Staatsgewalt betroffen ist. Solidarische Betroffenheit zählt nicht.