Davos - Der Sessellift surrt leise bergauf. Auf der blauen Piste unter ihm machen ein paar Skianfänger ihre ersten Pflugkurven. Im Steilhang gegenüber zeichnen Freerider sanft geschwungene Linien in den frischen Tiefschnee abseits der Piste. Nichts Besonderes in einem Skigebiet. Das Ungewöhnliche findet sich am Fuß des ersten Hangs: Ein seltsames Wirrwarr von Antennen, Kameras, Masten mit Windrädern und Radargeräten steht dort, am Weißfluhjoch im Skigebiet Parsenn oberhalb von Davos. Es ist die wichtigste Forschungsstation des Schweizer Schnee- und Lawinenforschungszentrums (SLF), des renommiertesten Instituts dieser Art weltweit. Nur an wenigen Orten kommen sich Grundlagenforschung und die Menschen, die davon profitieren, so nahe.
14.30 Uhr, Davos-Dorf, SLF-Zentrale. Ein Tief hat in den letzten Tagen jede Menge Neuschnee gebracht. Thomas Stucki sitzt mit zwei weiteren Männern vor diversen Monitoren. Er leitet das Team Lawinenwarnung. Gerade tippt er mit seinem Bleistift auf den Bildschirm mit der Windvorhersage. Viele große, schwarze Pfeile bedeuten, dass es stürmisch wird. Es herrscht Triebschneegefahr: Der Wind bläst den Schnee weg, der hinter Bergrücken oder in Mulden liegen bleibt und sich auftürmt, oft ohne sich mit dem Altschnee darunter zu verbinden. Das kann schon die Vorstufe zu einer mächtigen Lawine sein – versteckt und unsichtbar wie eine gespannte Falle.
Wind ist neben der Neuschneemenge, der Temperatur und der Steilheit eines Hanges ein wichtiger Aspekt, den Thomas Stucki im täglichen Lawinen-Bulletin berücksichtigen muss. Im SLF werden die Ergebnisse der Wissenschaftler laufend für die aktuelle Lawinenwarnung benutzt. Das ist weltweit einzigartig. Ständig überträgt die Station am Weißfluhjoch – wie 170 weitere in den Schweizer Alpen – die Messwerte ins Institut nach Davos Dorf, wo alle Informationen zusammenlaufen. Auch die von 180 geschulten Beobachtern und Bergführern in der Schweiz, die ihre Erkenntnisse meist per Internet und Smartphone durchgeben. Alles zusammen bildet die Basis für die tägliche Prognose.
In einem Iglu am Weißfluhjoch
Gegründet wurde das Institut wurde vor 77 Jahren, weil schwere Lawinenunglücke immer wieder Siedlungen und Straßen verschütteten. Zunächst war es in einem Iglu am Weißfluhjoch untergebracht, dann an gleicher Stelle in einer Holzhütte und ab 1942 in einem steinernen Gebäude auf 2662 Metern.
An Bedeutung gewann das SLF nach dem Lawinenwinter 1950/1951, in dem in der Schweiz 98 Menschen in Lawinen starben. Das SLF half daraufhin dabei, Lawinenverbauungsprojekte an besonders gefährdeten Stellen zu planen und verbesserte die Lawinenwarnung. 1999 fiel noch mehr Schnee als 48 Jahre zuvor, viele Täler waren tagelang von der Außenwelt abgeschnitten,es gab Lawinen. Allerdings in der Schweiz weitaus weniger Tote (17) in Siedlungen und auf Straßen – ein Verdienst der Lawinenverbauungen und der verbesserten Warnungen.
Mittlerweile publiziert das SLF jeden Tag um 17 Uhr und um 8 Uhr die Prognose für die Lawinengefahr. Sie wird ins Internet gestellt und an Radio- sowie Fernsehsender verschickt und besteht aus einem schriftlichen Teil sowie einer Karte, auf der man die Lawinenwarnstufe für die gesamte Schweiz erkennen kann.
An diesem Freitag weist sie im Norden gelb aus, also Lawinenwarnstufe 2. Große Teile der Schweizer Alpen sind orange markiert – Stufe 3 der europäischen Gefahrenstufenskala,die von Stufe 1 („geringe Gefahr“) bis Stufe 5 („sehr große Gefahr“) reicht. „Die meisten Menschen sterben bei den Gefahrenstufen „mäßig“ (2) und „erheblich“ (3)“, sagt Thomas Stucki. „Denn dann sind, anders als bei höheren Gefahrenstufen, viele Menschen abseits der Pisten unterwegs. Und lokal kann die Gefahr je nach Bedingungen größer sein als die generelle Lage.“
Ungefähr 100 Lawinenopfer pro Saison
So sind Lawinen heutzutage weniger eine Gefahr für Dorfbewohner in ihren Häusern, sondern eher für Wintersportler. Vor allem für solche, die sich abseits der Pisten bewegen. Im langjährigen Mittel gab es in den Alpen ungefähr 100 Lawinenopfer pro Saison. Eine große Motivation für die Forscher am SLF, die Zahl zu senken.
Allerdings ist sie – wohl auch ein Verdienst der täglichen Lawinen-Prognose – weitgehend konstant geblieben, obwohl sich die Anzahl der Wintersportler, die neben der Piste unterwegs sind, mit dem Boom des Freeridens vervielfacht hat. „Diese Sportler sind in den meisten Fällen gut ausgerüstet und informiert“, erklärt Thomas Stucki.
Generell sind Lawinenprognosen schwierig, weil Lawinen selbst an sehr gefährdeten Hängen seltene Ereignisse sind. Oft haben sogar die Forscher noch keine große Staublawine in der Natur gesehen. Um das zu ändern und genaue Analysen zu ermöglichen, gibt es seit 1997 das SLF-Versuchsfeld „Vallée de la Sionne“ oberhalb von Anzère im Wallis: ein Grat auf 2700 Metern Höhe, darunter ein steiler Hang, in dem das Geschehen an vier Stellen mit Messgeräten ausgewertet werden kann.
Das perfekte Test-Gelände
Am Hang gegenüber dient ein lawinensicherer Bunker als Kontrollstelle und Empfangsstation. Der Hang selbst ist das perfekte Test-Gelände, denn seit Jahrhunderten donnern dort mächtige Lawinen zu Tal. Mit den Erkenntnissen aus Anzère wurde die Software RAMMS („Rapid Mass Movements“) entwickelt. Sie erstellt eine Prognose dafür, wie weit eine Lawine ins Tal rauscht, welchen Weg sie nimmt, mit welcher Kraft sie gegen Hindernisse prallt – und ob bestehende Schutzmaßnahmen sie aufhalten können.
Im Himalaya und in den Anden überprüft man mit RAMMS die Sicherheit von Passstraßen, in Österreich und der Schweiz ermitteln die Gemeinden mit der Software, wo sie Wohnhäuser und Ferienanlagen errichten können und wo Schutzdämme und Stahlbeton-Galerien über Straßen erforderlich sind.
Lawinen werden mit Wärmebildkameras aufgenommen. „Mit ihren Bildern wollen wir unser Computermodell für Lawinen verbessern – vor allem die Vorhersage für Nassschneelawinen“,erklärt Perry Bartelt Leiter des RAMMS-Projekts am SLF. „In Südamerika, im Himalaya und im Westen der USA sind sie sehr häufig und durch die Klimaerwärmung nimmt ihre Zahl in Zukunft wohl auch in den Alpen zu.“
Bislang treten Nassschneelawinen im Alpenraum vor allem im Frühjahr auf – bei ansteigenden Temperaturen. Sie sind langsamer, aber genauso kraftvoll wie Trockenschneelawinen und können Wälder und ganze Dörfer zerstören. Mit der Wärmebildkamera kann erfasst werden, welche Art von Lawine abgeht und ob diese auf ihrem Weg bergab wärmeren Schnee aus tieferen Lagen mitnimmt. Außerdem konnte Bartelt schon eine kurios anmutende Theorie beweisen: Nur 15 Prozent der potenziellen Energie, die der Schnee im Hang liegend gespeichert hat, wird beim Lawinenabgang in Bewegungsenergie umgesetzt. Bartel konnte messen, dass die Temperatur des Schnees währende des Lawinenabgangs ansteigt.
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