Das Bild des bürgerlichen Widerstands gegen Stuttgart 21 hat neue, ungeahnte Facetten erhalten, meint StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Rentner, die Sand in die Tanks von Spezialbaumaschinen füllen, Mütter mit kleinen Kindern an der Hand, die mithelfen, den Bauzaun umzustürzen, Familienväter, die Paletten umwerfen und Reifen zerstechen - das Bild des bürgerlichen Widerstands gegen das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 hat am Montagabend neue, ungeahnte Facetten erhalten. Angeführt von einigen radikalen Stuttgart-21-Gegnern, die Polizisten angegriffen haben, ließen sich auch ganz normale Bürger zu Straftaten hinreißen.

 

Dies sind keine Kavaliersdelikte. Zum einen haben gewöhnliche Bürger an Aktionen teilgenommen, bei denen Menschen geschädigt wurden. Zudem ist ein Schaden in Millionenhöhe entstanden. Zwar passieren solche Dinge auch in Berlin am 1. Mai, und noch wütendere Proteste sieht man in den Fernsehnachrichten aus Athen. Das ändert jedoch nichts daran, dass am Montagabend in nicht akzeptabler Weise Grenzen überschritten wurden. Mit dem viel beschworenen zivilen Ungehorsam hat das nichts mehr zu tun.

Wenn der selbst ernannte oberste Parkschützer Matthias von Herrmann die Ereignisse des Abends als "gelöste Feierabendstimmung" wahrgenommen hat, zeigt er nur, dass er und ein Teil seiner Organisation sich radikalisieren und vom Rechtsstaat entfernen. Wenig überzeugend ist auch der am Dienstag unternommene Versuch, mittels ins Internet gestellter Videos die Vorwürfe zu bagatellisieren - die Verletzten und der entstandene Sachschaden sprechen eine deutliche Sprache.

Die Auswirkungen auf das Klima in der Stadt

Von Herrmann, aber auch die gewalttätig gewordenen Bürger diskreditieren damit die Protestbewegung gegen Stuttgart 21. Sie setzen zudem den besonnen auftretenden neuen Polizeipräsidenten Thomas Züfle und die grün-rote Landesregierung unter erheblichen Druck. Züfle hatte erst vor einer Woche eine Deeskalationsstrategie der Polizei angekündigt und muss sich nun schon wenige Tage nach seinem Amtsantritt fragen, ob er so seine Polizisten und eine Baustelle schützen kann. Doch auch die Landesregierung, deren einer Teil das Projekt verhindern will, sieht sich durch die Protestauswüchse ins Unrecht gesetzt. So muss die ökologisch-soziale Regierung die Baumaßnahmen nun noch früher als erwartet mit massiver Polizeipräsenz schützen.

Viel gravierender noch als die aktuellen politischen Probleme sind aber die Auswirkungen auf das Klima in der Stadt. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung in Stuttgart war trotz aller Meinungsverschiedenheiten seit jeher geprägt von Respekt und einer gewissen Gelassenheit; nicht wenige hielten die Stuttgarter Ausprägung des schwäbischen Liberalismus für das Gegenstück zum rheinischen "Leben und Leben lassen". Genau dies droht nun abhandenzukommen. Wenn Ausdrücke wie "Mafiosi" und "Lügenpack" durch den Schlossgarten hallen - und auch kraftvoll erwidert werden -, dann ist für einige der Schritt zur Sachbeschädigung offenbar nicht mehr so weit. Es ist ja für eine gerechte Sache.

Mehr Ruhe und Besonnenheit

In Stuttgart prallen Meinungen und Überzeugungen aufeinander. Angesichts der Grundsätzlichkeit des Konflikts lässt sich dies nicht auflösen, nur aushalten. Doch bei all dem wäre allen mehr Ruhe, Besonnenheit, Toleranz und Respekt für die Meinung des anderen zu wünschen. Das sind elementare Formen gesellschaftlichen Miteinanders. Ein Bau von Stuttgart 21 wäre nicht das Ende aller Dinge - und Stuttgarts schon gar nicht. Und ein Scheitern des Projekts wäre nicht das Ende des Industriestandortes Baden-Württemberg.

Wie man in der Bürgergesellschaft miteinander umgehen kann, das war unter anderem vor zwei Wochen zu besichtigen, als Leser der Stuttgarter Zeitung mit dem neuen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann diskutierten - teilweise mit Sympathie, teilweise kritisch, aber auf allen Seiten von Respekt gekennzeichnet.