Vom Sprungturm springt niemand mehr, die Startblöcke bleiben verwaist: In der Region steht seit mehr als zehn Jahren ein großes Freibad leer – und verfällt. Unsere Serie über Lost Places in der Region

Einerseits ist es ein ziemlich bröckeliger, ja fast abgenagter Charme mit reichlich zerschlissener Anmutung, der diesen Ort bestimmt, der seine besten Tage längst gesehen hat. Anderseits überrascht es auch wieder, wie gut so viel von der ursprünglichen Substanz noch erhalten ist, obwohl hier seit mehr als zehn Jahren kein Mensch mehr das getan hat, wofür dies alles gebaut, renoviert, verfeinert, verspachtelt, erneuert und gepflegt wurde.

 
Die alten Startblöcke stehen immer noch Foto: Gottfried Stoppel

Der alte Sprungturm steht am Lost Place noch immer

Einer allerdings hat bisher am tapfersten dem Zahn der Zeit standgehalten: Der Sprungturm steht immer noch fast da wie eine Eins, obwohl man erst mal in drei Meter Höhe klettern müsste – und könnte, denn das gute Stück ist auch noch ziemlich gut erhalten. Fast hätte man, sofern zu den wagemutigen Zeitgenossen gehörend, wieder Lust, sich von der Erdanziehungskraft erbarmungslos in die Tiefe reißen zu lassen wie damals beim Fahrtenschwimmerabzeichen. Doch derartige lebensgefährliche Experimente sollte man lieber bleiben lassen, denn ganz unten befindet sich in fünf Metern Tiefe der Beckenboden – und im Bassin befindet sich natürlich ebenfalls seit Jahrzehnten kein Wasser.

Es war der 13. September 2013, als im alten Fellbacher Freibad die letzten Kraulzüge gemacht wurden und die letzte Arschbombe vom Sprungturm für gewaltige Spritzer sorgen oder man sich ein letztes Mal unter den Schatten spendenden Bäumen von den Sonnenstrahlen erholen konnte. Das noch immer direkt an dem mittlerweile natürlich zum Schutz vor ungebetenen Gästen fest verschlossenen Eingangstor befestigte Hinweisschild informiert bis heute: „Freibad geschlossen – Besuchen sie das neue F3 Kombibad Esslinger Straße (beim Jugendhaus)“.

Nicht der Backenzahn, sondern der Beckenzahn der Zeit nagt am alten Freibad. Foto: Gottfried Stoppel

Dort, ganz im Westen der Fellbacher Kernstadt, empfing der neue, für 45 Millionen Euro errichtete Schwimmtempel, mittlerweile marketingmäßig als „Wohlfühlbad“ tituliert, am 15. September 2013 erstmals die Gäste in der 80 Meter langen, riesigen Schwimmhalle, in den Saunen und ein Jahr später auch im neuen Freibadbereich.

Das einstige Freibadgelände, gelegen in dem Eckbereich nahe der Kreuzung Esslinger Straße und Untertürkheimer Straße, soll in ein großes neues Wohngebiet verwandelt werden. Dies war schon klar, als der Umzug ins neue kombinierte Hallen-Freibad noch in der Überlegungsphase war. Das Tempo der Umsetzung blieb dann allerdings deutlich hinter den Erwartungen etlicher Lokalpolitiker zurück.

Die einstigen Spinde in den Umkleidekabinen. Foto: Gottfried Stoppel

Diverse Graffiti im Becken zeugen vom Dasein als Lost Place

Und so kommt es, dass das einstige Freibadgelände auf Zaungäste immer noch ganz gut erhalten wirkt – aufs Gelände selbst können Neugierige natürlich aufgrund der diversen Sturz- und Stolperfallen nicht gelangen. Wobei es offenkundig auch schon vermutlich jüngere Zeitgenossen gegeben hat, die sich davon nicht haben aufhalten lassen, wie die diversen Graffiti an den Beckenwänden beweisen.

Im Beckenboden wird bereits gebuddelt. Foto: Gottfried Stoppel

Aber vom Bereich der Flüchtlingsunterkünfte, die auf der einstigen Liegewiese platziert wurden, hat man durch den Zaun einen ganz passablen Blick auf den noch leidlich erhaltenen Wasserpilz, auf die einstigen Duschen beim geplättelten Übergang zu den Becken oder auf die acht Startblöcke – ein ziemlicher Luxus aus vergangener Zeit, wenn man bedenkt, dass im Jahr 2004 bei der Renovierung des Freibads in der Fellbacher Nachbarstadt Waiblingen die dortigen Stadtwerke die geforderten sechs Bahnen aus Kostengründen ablehnten und die Schwimmer in der Kreishauptstadt sich somit mit nur fünf Bahnen begnügen müssen. Aber zurück in die Zukunft: Mittlerweile nehmen die Pläne für die Neubebauung in Fellbach doch Gestalt an und die Tage des einstigen Freibads sind gezählt. Die Entwicklung des derzeit größten Quartiers in der Stadt, das inzwischen offiziell als „Rohrlandsiedlung“ bezeichnet wird, hat Fahrt aufgenommen. 2019 gab es bereits einen Realisierungswettbewerb, den das Tübinger Büro Hähnig Gemmeke in Kooperation mit dem Büro Stefan Fromm Landschaftsarchitekten für sich entscheiden konnte. Vorgesehen ist ein grünes und innovatives Quartier auf einer Fläche von 4,2 Hektar, das entspricht knapp sechs Fußballfeldern. Mindestens 250 Wohneinheiten sind angedacht, womöglich auch 275 oder 300, je nach den Planungen in den kommenden Jahren.

Vorne das ausrangierte Schwimmbecken, hinten die demnächst ausrangierten Flüchtlingscontainer. Foto: her

Kritiker befürchteten bereits vor Jahren einen „Kahlschlag“ beim Bestand der wunderbaren alten Bäume, die dann Wohnhäusern und Tiefgaragen weichen müssten. Stadtplaner Christian Plöhn sprach in diesem Frühsommer bei einem Pressegespräch demgegenüber von einer „ausgeglichenen Baumbilanz“. Im Klartext: „Wir mussten 100 Bäume fällen“, allerdings nicht wegen der anstehenden Neubauten, sondern weil Klimawandel, Trockenphasen, Sturmschäden und Krankheiten die „Vitalität der Bäume“ beeinträchtigt hätten. Es werde allerdings „dieselbe Zahl an Bäumen nachgepflanzt“, versicherte Plöhn – 100 neue statt 100 alte Bäume also – und „circa 70 Baumstandorte werden wir erhalten können“.

Vorgesehen ist ein verkehrsarmes Quartier mit reichlich Grünräumen, berichtete die Baudezernentin Beatrice Soltys Ende November im Gemeinderat. Die Autos der Anwohner kommen allesamt in die Tiefgaragen, Besucherstellplätze werden nur an den Eingangsbereichen des Quartiers zugelassen, um Park- und Suchverkehr innerhalb des Gebiets zu vermeiden. Am südlichen Rand des Wohngebiets erinnert ein neues „Freibadwäldchen“ als Park an frühere Zeiten auf der Liegewiese.

Vom Dreimeterturm auf den Beckenboden ginge es acht Meter in die Tiefe. Foto: her

Wellengang, Bauchplatscher: Ein Alleinstellungsmerkmal ist überdies die Benennung der drei neuen Straßen im Quartier, die – in Erinnerung an den einstigen Zweck der Gegend – Badweg, Am alten Freibad oder Am Sprungturm heißen werden. Zahlreiche, im Findungswettbewerb eingegangene originelle Vorschläge wurden bereits vor der Entscheidung aussortiert – somit gibt’s keine Seepferdchengasse, keinen Wasserrattenweg und auch keine Gasse, die Beim Bikini-Atoll, Am Meerbusen oder Im Tanga heißt.

Der Sprungturm übrigens wird, entgegen der anfänglichen Überlegungen, doch abgerissen. Neben dem Kostenaufwand dürften auch Sicherheitsaspekte eine Rolle gespielt haben. Als „Reminiszenz“ soll nun ein „identitätsstiftendes Kunstwerk“ womöglich in Sprungturmanmutung errichtet werden.

Geheimnisvolle Orte in der Region

Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen jedoch ihre geheimnisvolle Aura. Die Bezeichnung Lost Places ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir in den kommenden Wochen Lost Places in der Region vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.