In einem Waldstück stoßen Spaziergänger auf 13 kleine Gräber. Was hat es mit diesem Mini-Friedhof auf sich und wer wurde dort beerdigt? Unsere Serie über Lost Places in der Region

Lisel ist gerade mal fünf Jahre alt geworden. Ihr kleiner Grabstein mit den Lebens- und Sterbedaten 1907 bis 1912 steht an einer Weggabelung mitten in einem Waldgebiet, das sich zwischen dem Stettener Bach und den Ortschaften Schanbach und Lobenrot erstreckt. Drumherum wachsen mächtige alte Bäume, unter denen Spaziergänger auf einer Bank verweilen können.

 

Auch Wolle hat hier seine letzte Ruhestätte gefunden – zusammen mit weiteren elf Weggefährten, von denen viele Friedrich Wilhelm Hohl hier im Laufe der Jahre zu Grabe getragen hat. Wer die kleinen Grabsteine betrachtet, hegt keinen Zweifel, dass die Verstorbenen ihm lieb und teuer waren, dass er um sie getrauert hat.

Hohl war von 1897 bis 1932 Förster im Dienste des württembergischen Königs Wilhelm II. Und Lisel, Wolle, Lore und andere der hier Beerdigten waren seine engsten Mitarbeiter – die Jagdhunde, die den königlich-württembergischen Forstwart auf seinen Streifzügen durch den Wald, der heute im Besitz der Stadt Esslingen ist, begleiteten. Sie waren unersetzliche Helfer für den Förster, stöberten mit ihrem phänomenalen Spürsinn verletztes Wild auf, apportierten erlegte Tiere oder wagten sich in Erdbauten und trieben Dachs und Fuchs heraus. Außerdem schützten sie ihren Herrn vor Angriffen, zum Beispiel von Holzdieben oder Wilderern, die sich verbotenerweise im königlichen Hofkammerwald mit Brennstoff oder mit Fleisch versorgen wollten.

Försterhund Lisels Grabstein ist ein umgearbeiteter Grenzstein. Foto: StZN/Clauß

Zu Lebzeiten von Förster Hohl sei dies ein durchaus realistisches Berufsrisiko gewesen, heißt es in einem Bericht, den der Leiter des städtischen Forstreviers Esslingen, Ingo Hanak, und Martin Hahn, Landeskonservator beim Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, für das Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege Anfang des vergangenen Jahres verfasst haben. Ein Kollege Friedrich Wilhelm Hohls, der Forstanwärter Wilhelm Klingler aus Plattenhardt, sei zum Beispiel im Jahr 1913 von zwei Wilderen erst angeschossen und dann erschlagen worden, schreiben Hahn und Hanak in dem Bericht. Der Anlass für die Veröffentlichung war, dass der Jagdhundefriedhof im Esslinger Stadtwald Ende des Jahres 2022 neu auf die Liste der Kulturdenkmale im Land gesetzt worden war.


„Die Grabsteinsammlung ist ein frühes Beispiel sowie ein eindrückliches und anschaulich erhaltenes Dokument der Bestattungs- sowie der Jagdkultur im frühen 20. Jahrhundert und damit ein seltenes und bemerkenswertes Kulturdenkmal in Baden-Württemberg, heißt es darin. Zu diesem besonderen Friedhof gelangt man beispielsweise, indem man von Stetten aus entlang des Stettener Bachs geht und beim alten Steinbrückle in Richtung Lobenrot abbiegt.

Auch Harras hat hier seine letzte Ruhestätte gefunden. Foto: StZN/Clauß

Auch das Dasein als Begleiterin eines Försters im Dienste des württembergischen Königs Wilhelm II. war sicher nicht ungefährlich. Welcher Rasse die bei ihrem Tod gerade mal fünf Jahre alte Lisel angehörte, das weiß heute keiner mehr. Und wer weiß, was ihr im Jahr 1912 wohl zugestoßen ist? Hat sie sich mit einem aggressiven Keiler angelegt, einen wehrhaften Dachs getroffen oder ist sie womöglich sogar einem Wilderer vor die Flinte gelaufen?

Lost Place mit Grabsteinen im Wald

Der Lobenroter Förster musste im selben Jahr wie Lisel auch noch seinen Hund Wolle beerdigen, der immerhin 16 Jahre alt wurde. Das beweise, dass Friedrich Hohl immer mehrere Hunde gleichzeitig gehalten habe, schreibt der heutige Forstrevierleiter Ingo Hanak: „Üblich war neben dem obligatorischen Försterdackel, mit dem die Baujagd auf Fuchs und Dachs betrieben wurde, oft ein größerer Vorstehhund für die Jagd auf Hase und Rebhuhn.“

Wolle gehörte zu den ersten Hunden, die im Wald begraben wurden. Foto:  Gottfried Stoppel

Die ältesten dieser Grabsteine sind ehemalige Grenzsteine, die umgearbeitet wurden. Auch später fanden noch Jagdhunde von Nachfolgern Hohls hier ihre Ruhe. Das ist seit dem Inkrafttreten des Tierkörperbeseitigungsgesetzes, das es seit Mitte der 1970er-Jahre gibt, jedoch nicht mehr möglich: Das Gesetz verbietet es strikt, verstorbene Tiere im Wald zu begraben. Einen Jagdhundefriedhof gibt es übrigens auch im Heilbronner Stadtwald, seine ältesten Gräber sind allerdings deutlich jünger als die im Esslinger Stadtwald, sie stammen aus den frühen 1930er-Jahren.

Lost Places in der Region

Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen ihre geheimnisvolle Aura. Lost Places ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir in den kommenden Wochen Lost Places in der Region Stuttgart vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Geheimnisvolles Stuttgart
Auch direkt in der Landeshauptstadt finden sich Überraschungen. Von Tipps und Ausflugszielen bis hin zum Lost Place für Verliebte sammeln wir sie online unter dem Titel „Geheimnisvolles Stuttgart“.