Marina and the Diamonds spielen im Wizemann supereingängigen Pop. Zu Fitnessstudio-Sound verhandeln sie Mädchenidentitäten. Wer diese Musik prollig findet, hat sie schlichtweg nicht verstanden.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Der schönste Moment beim Stuttgarter Konzert von Marina and the Diamonds ist der, als der Bühnenhintergrund zum funkelnden Sternenhimmel wird. Nach gut zehn Minuten gehen die Sterne an, und sie gehen bis zum Ende des stark anderthalbstündigen Konzerts am Montagabend nicht mehr aus. Die Sterne leuchten von da an in allen Farben, gerne passend zu den insgesamt drei Bühnenoutfits der griechisch-walisischen Sängerin. Und sie sind Sinnbild für so vieles, was dieses Konzert und diese Musik sein sollen und erfreulicherweise auch sind.

 

Die Halle des Im Wizemann ist ausverkauft, und die Frage am Einlass – „über 18?“ – lässt erahnen, wer da Tickets gekauft hat: Eltern für sich und ihre Kinder, Jugendliche mit Taschengeld oder Selbstverdientem. Aber man entdeckt auch junge Erwachsene und andere Menschen, die unmöglich wegen oder mit ihren Kindern hier sein können. Willkommen bei einem All-Ages-Konzert – und zwar einem der allerbesten Sorte.

Wenn die Quellensammlung der englischsprachigen Wikipedia nicht vollständig lügt, hat sich Marina Diamandis irgendwann in den Nullerjahren zur Ochsentour mit Berufsziel Popstar aufgemacht. 2009 landete sie wie so viele, die dieses Ziel später erreichen, auf der Jahresendliste der BBC. Bei der im Rückblick sehr treffsicheren Liste „Sound of 2010“ stand sie hinter Ellie Goulding auf Platz zwei. Die wiederum war ja erst kürzlich in der Porsche-Arena zu Gast, was eine Bewertung des Diamonds-Konzert umso reizvoller macht.

Micky Maus, Cheerleaderin, Waldelfe

Da lässt sich ein Kontrast herausarbeiten: Goulding ist das Glitzer-Girl, das in provokantem Outfit bei der Unterwäsche-Modeschau „Victoria’s Secret“ performt (und dabei die ursprünglich eingeplante Rihanna ersetzt). Marina Diamandis folgt eher einem eklektischen Modeverständnis, sie zeigt sich in Vintage-Klamotten und auch ihr Bühnenoutfit im Wizemann ist alles andere als provokant. Vielmehr wandelt sie sich vom bauchfreien Hippie mit Micky-Maus-Ohren zur Cheerleaderin zur Waldelfe – drei Akte, drei Outfits, damit wären wir beim Stuttgarter Konzert vom Montag.

Der Abend ist in drei Teile gegliedert, einer für jedes der bisher drei Alben von Marina and the Diamonds. Solche erläuternden Ansagen direkt von der Sängerin bekommt man nicht oft. In dem Fall helfen sie, das Konzert und auch die Musik zu verstehen. Die Musik vom ersten Album „The Family Jewels“ aus 2010 trägt am dicksten auf: über stampfenden Beats, die auch im Fitnessstudio laufen könnten, überschlägt sich Marinas Stimme auf herrlichste Melodiebögen, die man so arrangiert in der Popgeschichte bisher genau zwei Mal hören konnte: in den Achtzigern bei Künstlerinnen wie Kim Wilde und zuletzt bei DJ-Megastars wie David Guetta oder Calvin Harris. Während die allerdings auf Überwältigung durch Licht- und Bühnenshow setzen, wollen Marina and the Diamonds allein mit ihrer Musik überwältigen – wir erinnern uns: der Bühnenhintergrund zeigt nichts als einen elektrischen Sternenhimmel.

Hier werden Mädchenidentitäten verhandelt

Oberflächliche Hörer werfen dieser Musik sofort und mit einigem Recht vor, irgendwie prollig zu wirken. Sie sollten nicht vergessen, dass Marina Diamandis in ihren Texten Mädchenidentitäten verhandelt, dass sie als „role model“ wenn auch eher unterschwellig ein gutes Vorbild abgibt: sie hat ein klares künstlerisches Ziel, einen eigenen Stil und sie behauptet sich symbolhaft gegenüber ihrer rein männlichen Band weder mit aufgesetzten Mackerposen noch mit divenhafter Zerbrechlichkeit. Marina Diamandis stellt stattdessen eine selbstbewusste Bühnenfigur mit überdies fantastischer Stimme über vier Oktaven dar – und nimmt sich inmitten der sonst perfekt choreografierten Show die Freiheit, sich zwischendurch immer mal wieder fünf Sekunden hinzusetzen um einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen.

Im zweiten und dritten Teil des Konzerts – und mit Songs der Alben „Electra Heart“ (2012) und „Froot“ (2015) – amalgamieren die Sängerin und ihre Mitmusiker sämtliche (weißen) Spielarten der Popmusik, die in den vergangenen vierzig Jahren im Radio zu hören waren. Beim Cover „True Colors“ wird klar, dass auch Cyndi Lauper den Marina-Sound geprägt hat, und man denkt an die britische Sängerin und Produzentin Eleanor Jackson alias La Roux, die derzeit ihr drittes Album aufnimmt.

Zum Ende dieses Konzert-Dreiteilers versteht man, dass Marina Diamandis hier ihr eigenes musikalisches Coming-of-Age aufführt. „Froot“ klingt live noch ein Stück mehr nach Style-Council-Achtzigern als im herrlich weichgezeichneten Video mit Spandau-Ballet-Gedächtnisbeleuchtung. Dabei wird en passant klar, dass Marina and the Diamonds sich in geradezu klassischer Manier die Mühe machen, diese Musik live aufzuführen statt auf das beliebte, weil kostengünstige Halbplayback zu setzen.
 


Es ist neben der fantastisch gespielten und supereingängigen und zuckersüßen Musik ein einziger Genuss, wie die Sängerin diese Entwicklung stimmig nachzeichnet. Vor allem hat Diamandis so viel stimmliches Potenzial (und darüber hinaus eine höchst konzentrierte, nur in den Umbaupausen improvisierend ausbrechende Band) – da kann noch viel kommen.

Derzeit füllt sie das Wizemann und nicht wie ihre Kollegin Ellie Goulding von der BBC-Liste die Porsche-Arena. Doch Marina Diamandis ist, wir denken noch einmal an das Bühnenbild, den Sternen nicht nur so nah. Sie ist selbst einer – und zwar einer, der musikalisch gerade besonders hell scheint.


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