Seit 15 Jahren ist die Zollernstadt das Herz des Medical Valley Hechingen. Wie gelang es im einst strauchelnden Textilstandort, so viele medizintechnische Firmen und Startups zu versammeln?

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Hechingen - Irgendwo hinter Tübingen, wo die Bahnstrecke eingleisig wird und die Triebwagen der Hohenzollerischen Landesbahn in Dusslingen und Engstlatt aufeinander warten müssen, da beginnt das Medical Valley Hechingen. Nun ja, sagt der Hechinger Wirtschaftsförderer Hans Marquart, der eigens zum Bahnhof gefahren ist, um seinen Gast abzuholen, „als man vor 15 Jahren den Standort getauft hat, sollte natürlich ein klangvoller Name her.“

 

Der etwas großspurige Anglizismus hat längst seine Berechtigung. Rund um die Zollernstadt, auf den kargen Böden am Westrand der Schwäbischen Alb, haben sich knapp 40 Unternehmen angesiedelt, die weitgehend alles produzieren können, was Kardiologen und Gefäßchirurgen so an technischen Geräten benötigen, vom Stent bis hin zur Herz-Lungen-Maschine. Darunter sind Start-ups bis hin zu Weltmarktführern, die sämtliche Kontinente beliefern.

Medical Valley Hechingen heißt Kunststoffe und Textilgewebe

Man muss gleich dazu sagen, dass 60 Kilometer südlich von Hechingen der große Bruder wohnt: Tuttlingen bezeichnet sich nämlich als das „Weltzentrum der Medizintechnik“ – der Standort zählt fast 600 Firmen. Doch die Berührungspunkte sind gering. Während sich die Mittelstadt vor allem auf Metallprodukte wie Skalpelle und Knochensplitterzangen versteht und als einstiger Sitz des herzoglichen Eisenschmelzwerks auf eine lange Tradition zurückblickt, arbeitet man im Medical Valley Hechingen vor allem mit Kunststoffen und Textilgeweben – und begann damit auf der grünen Wiese.

Den Grundstein legte Anfang der 70er Jahre Bürgermeister Norbert Roth, der damals extrem unter Druck stand. Die Textilfirmen hatten eine nach der anderen den Betrieb still gelegt und an die 1000 Arbeiter heimgeschickt. In ihrer Not entwarf die Stadt einen Werbeprospekt, der die schöne Burg zeigte und darauf hinwies, dass Hechingen immerhin „im Herzen Europas“ liegt. Dieser Prospekt muss wohl auf dem Tisch des Schweden Holger Crafoord gelandet sein. Er war auf der Suche nach einem Produktionsstandort in der geografischen Mitte Europas für seine Firma Gambro, die im südschwedischen Lund Dialysegeräte herstellte.

Mit der Arbeitsmoral überzeugt

Nachdem Crafoord 1972 einem Standort bei Frankfurt einen Besuch abgestattet hatte und von der dortigen „Arbeitsmoral“ nicht überzeugt schien, wie Bürgermeister Roth in einer Jubiläumsschrift erinnert, traf die kleine Delegation in der Zollernstadt ein. Das vorgesehene Areal in der Friedrichstraße fand nicht den Gefallen Crafoords. Geistesgegenwärtig zeigte Roth ihm ein weiteres Gebiet, das der Stadt allerdings gar nicht vollständig gehörte, für das nicht einmal ein Bebauungsplan vorlag. Crafoord war angetan, auch vom niedrigen Lohnniveau und der Nähe zur Universität Tübingen.

Es folgten hektische Sitzungen im Gemeinderat, intensive Verhandlungen mit Eigentümern, außerplanmäßige Eingriffe in den Stadtsäckel, Hauruck-Bürokratie, dann war der Bau des Werkes beschlossene Sache. Im April 1973 nahm Gambro mit einer Handvoll Mitarbeiter die Produktion in Hechingen auf.

Das Textil-Wissen war hilfreich

Es stellte sich heraus, dass die Hechinger ihr Textil-Knowhow in der Welt der Dialysatoren prima einsetzen konnten, schließlich sind auch die Membrane, mit denen das Blut gefiltert wird, Textilien, die von großen Maschinen gesponnen werden. Die Führungsriege wurde allerdings zunächst mit Schweden bestückt, unter ihnen ein junger Mann namens Lars Sunnanväder, der sich für Hechingen als eine Art Schicksalsfigur entpuppen wird.

Sunnanväder kam mit einem Zweijahresvertrag als Manager für Produktplanung nach Hechingen. Später ernannte Crafoord ihn zum technischen Werksleiter. 1982 verließ Sunnanväder Gambro und machte sich selbstständig. Seine erste Firma Jostra, die ebenfalls Dialyseprodukte herstellte, war nur der Auftakt einer ganzen Serie von Gründungen in Hechingen. In den folgenden Jahren rief der hagere Schwede weitere sieben Firmen ins Leben, mit denen er unter anderem Herzklappen, Katheter, Stents und Herz-Lungen-Maschinen entwickelte.

Startups rückten das Medical Valley Hechingen nach vorn

Nicht alle Startups in Hechingen waren von Erfolg gekrönt. Doch sie rückten den Standort in der Medizintechnik-Szene ins Rampenlicht. Firmen wie die schweizerische NVT oder die Tübinger Erbe-Gruppe zogen ins Medical Valley, um dort Entwicklungs- und Produktionsstätten zu eröffnen. Als sich das Kompetenzzentrum im Jahr 2002 auf Initiative des Bürgermeisters Jürgen Weber gründete, zählte das Netzwerk zwölf Firmen, heute gehören ihm 51 Mitglieder an.

Die Geschäftsführer kennen sich gut. „Wir sind fast alle miteinander per du“, erzählt Thomas Ertl, der Geschäftsführer der Gambro Dialysatoren GmbH. Die Firma ist heute mit rund 1300 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber in Hechingen und exportiert in mehr als 100 Länder. Bei regelmäßigen Treffen gibt man sich gegenseitig Rat und tauscht auch mal Mitarbeiter aus, um voneinander zu lernen. „Wir haben fast keine Geheimnisse voreinander“, betont Ertl, „dafür sind unsere Produkte zu unterschiedlich.“

Die Zusammenarbeit reicht so weit, dass bei Firmenschließungen die entlassenen Mitarbeiter vom Netzwerk aufgefangen werden. Als beispielsweise die Firma Abbott in der Nachbarkommune Rangendingen 2011 ihre Tore schloss, machte der Wirtschaftsförderer Marquart eine Liste mit Namen und Qualifikation der Betroffenen und schickte diese raus ins Netzwerk. „Fast alle fanden einen neuen Arbeitsplatz“, erinnert sich Marquart.

Ein Lustgartenhaus als Szenetreff

Ein prominenter Szene- und Seminartreff ist die Villa Eugenia, einstiges Lustgartenhaus und letzte Residenz der Fürsten von Hohenzollern-Hechingen. Ein Mal im Jahr präsentiert hier, in der „Akademie“ des Netzwerks, die Beraterfirma Ernst & amp; Young ihren Medizintechnikreport, zu dem auch Tuttlinger und Stuttgarter Branchenvertreter nach Hechingen reisen. Die Prognosen für die Branche waren in der Vergangenheit naturgemäß immer gut: Der Mensch wird älter, sein Lebensstandard steigt, vor allem in den Entwicklungsländern – entsprechend steigt der Bedarf an moderner Medizintechnik. „Der Markt für Dialyseprodukte wächst jährlich um fünf Prozent“, berichtet Geschäftsführer Ertl.

Doch über dem Medical Valley sind Wolken aufgezogen. Nach dem Skandal um Brustimplantate aus Industriesilikon hat die Europäische Union die Anforderungen an neue Medizinprodukte stark erhöht. So müssen deutsche Medizintechnikfirmen künftig in deutlich größerem Umfang medizinische Studien durchführen und eine Vielzahl an Behörden passieren.

Neue EU-Normen treffen kleine Firmen

„Das trifft vor allem die kleinen und mittelständischen Firmen“, klagt Thomas Radtke, der Geschäftsführer von Cardiobridge – das Startup, ebenfalls von Sunnanväder gegründet, steht kurz vor der Markteinführung einer hochkomplexen Katheterpumpe. Laut einer örtlichen Umfrage beim großen Bruder Tuttlingen fühlen sich 60 Prozent dieser Firmen von den neuen Regularien in ihrer Existenz bedroht, wie Radtke berichtet. „Ich habe Sorge, dass wir bald alle in amerikanischer Hand sind.“

Das wäre auch für Wirtschaftsförderer Marquart, der über die Gewerbesteuereinnahmen wacht, keine erfreuliche Entwicklung. „Ein Investor namens Sunnanväder, der sich für den Standort verantwortlich fühlt, ist mir natürlich viel lieber als ein Amerikaner.“

Medical Valley Hechingen

Hinter dem Netzwerk Medical Valley Hechingen verbirgt sich ein privater Verein, der bisher keine Fördermittel in Anspruch genommen hat. Ihm gehören 37 Medizintechnikunternehmen, sechs Zulieferbetrieben und acht Dienstleistungsunternehmen an, die zusammen mehr als 5000 Mitarbeiter beschäftigen. Das Netzwerk, das eng mit der Stadt kooperiert, kümmert sich um Veranstaltungen zu aktuellen Themen, Weiterbildung, Nachwuchsförderung und die Anziehung von Fachkräften.

Hechingen ist eine von wenigen Kommunen im Zollernalbkreis, die wächst. Sie hat 19 800 Einwohner, laut Prognosen dürfte sie im Jahr 2020 die 20 000-Marke knacken – und damit Große Kreisstadt werden. Ihre jährlichen Einnahmen aus Gewerbesteuern haben sich innerhalb von 15 Jahren von sieben auf 22 bis 25 Millionen Euro verdreifacht, wie Wirtschaftsförderer Marquart berichtet. Unter den Medizintechnikfirmen befinden sich einige noch in der Produktentwicklung – und sind noch von der Gewerbesteuer befreit.