Der Zorn über Putins Kriegsführung in der Ukraine und die Sorgen deswegen treiben auch am Samstag viele Stuttgarter auf die Straße. Es sind mehr als erwartet.

Stuttgart - Es ist Tag 3 des Krieges. Die schlimmen Bilder aus der Ukraine haben sich schon in die Köpfe der Menschen eingebrannt, ständig kommen neue dazu. Erst der Despot, der im Kreml technokratisch eine „Sonderoperation“ der russischen Streitkräfte bekannt gibt. Dann Angriffe auf Militärstützpunkte in der ganzen Ukraine. Schutz suchende Menschen in Metrostationen. Zerstörte Wohnungen. Hilflose und flüchtende Menschen. Diese Bilder treiben am Samstag auch in Stuttgart viele Menschen zum Protest auf die Straße. Und während sie am Mittag zur ersten Demonstration gehen, wissen sie, dass Kiew unter zunehmendem Beschuss steht, dass im russischen Angriffskrieg Ukrainer leiden und sterben.

 

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Um 12 Uhr mittags auf dem Stuttgarter Wilhelmsplatz schwillt das anfängliche Häuflein der Demonstranten mehr und mehr an. Mit Plakaten, Transparenten und Fahnen stoßen immer mehr dazu, umgeleitet vom Rotebühlplatz, weil die Stadtverwaltung am Freitag realisierte, dass der zunächst vorgesehene Versammlungsplatz zu klein sein würde. Ursprünglich hatte man nur mit maximal 500 Teilnehmern an den Demonstrationen gegen den Krieg gerechnet.

Viele zeigen Flagge gegen die Gewalt

Unter den Fahnen auf dem Wilhelmsplatz dominieren natürlich die Farben Blau und Gelb, die Farben der Ukraine. Aber es zeigen hier viele Flagge gegen den Krieg, gegen Putin, gegen das stille Zusehen, wie die Ukraine unterzugehen droht. Auch Georgier sind da, Letten und Litauer. Und eine kroatische Flagge. Sie ist in den Händen von Stjepan Poropatic (69), der Sympathien für das ukrainische Volk, aber auch für die Menschen in Russland hat und der die Not der Kriegsopfer nachvollziehen kann. „Vor 31 Jahren stand ich auf dem Stuttgarter Schlossplatz, weil ich den Krieg in Kroatien stoppen wollte“, sagt Poropatic, der seit 52 Jahren in Stuttgart lebt.

Jetzt steht er neben Deutschen, die auf dem Wilhelmsplatz die Frage stellen: „Was ist eigentlich uns die Freiheit wert?“ Und er steht neben Protestierenden, die von der Nato und der EU zumindest die komplette Schließung des Luftraums über der Ukraine und Waffen für die ukrainischen Soldaten fordern, noch ehe am Abend die Zustimmung der Bundesregierung zu Lieferungen bekannt werden sollte. Oder die einfach dies wünschen: „Putin, fahr zur Hölle!“

Ukrainer schildern die Not ihrer Verwandten

Es sind fast zwei Stunden des gemeinsamen Leidens, Bangens, Hoffens und Zornigseins, wozu sich hier ganz sicher mehr als 1000 Menschen auf Initiative der Ukrainer in Stuttgart und ihres Vereines versammelt haben. Das Motto: „Frieden und Unterstützung für die Ukraine“.

Einige schildern die Not ihrer Angehörigen daheim in der Ukraine. Dass Raketen in ihr früheres Wohngebiet eingeschlagen hätten. Eine Frau beklagt, dass ihr Neffe und ihre Nichte den dritten Tag auf dem Flurboden ihrer Wohnung ausharren müssen, weil der nächste Luftschutzkeller zu weit weg sei. Ein spontaner deutscher Demo-Teilnehmer kann es nicht fassen, dass man in Deutschland noch nicht härtere Sanktionen verhängen und noch nicht Gaslieferungen, das Wohl der Wirtschaft und die Sicherheit der Arbeitsplätze riskieren will, während die Ukrainer um ihr Land und ihr Leben kämpfen. Zwischen den Wortbeiträgen erklingt die ukrainische Hymne und wird die Hauptstadt Kiew besungen. Und die Demonstranten beschwören die Einigkeit und den Zusammenhalt der Menschen jeglicher Herkunft. „Zusammen sind wir stark.“

Spontan ziehen viele Menschen durch die Straßen

Nicht geplant ist, was dann geschieht. Die Menge kommt nach der Kundgebung in Bewegung, und viele ziehen mit Transparenten und Plakaten zum Berliner Platz. Die Polizei, die sich darüber kurzfristig mit dem Versammlungsleiter verständigt hat, registriert in der Folge „geringfügige“ Verkehrsbehinderungen in Kreuzungsbereichen, aber keine Zwischenfälle.

15 Uhr am Schlossplatz bei der Commerzbank. Hier werden wohl 200 bis 300 Passanten, aber auch in Stuttgart lebende Menschen aus Osteuropa und der Russischen Föderation und der Ukraine, Zeuge einer etwas anders gelagerten Solidaritätsaktion für die Ukraine: Mitglieder der vier „Diasporas“ von Russland, Kasachstan, Belarus und Ukraine in Baden-Württemberg machen deutlich, dass ihre Heimatvölker anders ticken als die Diktatoren und Despoten in den post-sowjetischen Gebieten. Der Tenor: Die Mächtigen in Russland und Belarus, die Lenker der „Repressionsmaschinen“ hätten keine demokratische Legitimation für ihr Vorgehen. Die EU wird dringend aufgefordert, nicht mehr eng mit Diktatoren zusammenzuarbeiten, sondern mit demokratisch gesinnten Vertretern der Zivilgesellschaften – und mit den politischen Gefangenen, wovon es in Russland mehr als 430 gebe.

Seebrücke richtet Forderungen an OB Nopper

Jonas Gutknecht von der Flüchtlingshilfsorganisation Seebrücke erntet Applaus von Zuhörern nicht nur für die Forderung, hilfesuchende Ukrainer müsste in jedem beliebigen EU-Staat auch ohne biometrische Ausweispapiere den Asylantrag stellen können, nicht nur in Polen, wo sie erstmals auf EU-Territorium kommen. Gutknecht appelliert auch an den Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), sich nicht nur beim Entzünden einer Friedenskerze öffentlichkeitswirksam fotografieren zu lassen. Das Stadtoberhaupt müsse zusätzliche Aufnahmeplätze für Geflüchtete bereitstellen.

16 Uhr am Mahnmal gegen Krieg und Faschismus an der Planie. Hier erheben verschiedene Mitglieder der Friedensbewegung, ebenfalls vor etwa 200 bis 300 Teilnehmern, ihre Stimmen. Henning Zierock von der Gesellschaft für eine Kultur des Friedens fordert ultimativ: „Krieg darf kein Mittel der Politik sein.“ Putin müsse die Soldaten sofort zurückziehen, alle müssten wieder an den Verhandlungstisch. Es gelte nun eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato zu verhindern. Vielleicht könne ein vorübergehender Neutralitätsstatus für die Ukraine eine Verhandlungsmasse sein. Auch Zierock will Schuldzuweisung ans russische Volk verhindern: „Es gibt keine schlechten und guten Völker, nur schlechte und gute Regierungen.“ Die Friedensbewegung, das macht auch die katholische Friedensinitiative Pax Christi neben dem Mahnmal klar, hält nichts von noch mehr Waffen im Krisengebiet. Man setzt auf Diplomatie.

Keine Demo ist also wie die andere, wenngleich sie sich ähneln. Zusammen wirken sie an dem Tag wie ein Aufschrei – und alle sind sie eine Absage an Gewalt, Krieg, Bruch des Völkerrechts, Leid und Sterben auf den Befehl von Despoten.