Moderne Dichter sind Alleskönner. Sie reimen nicht nur, sie veranstalten auch. So wie Nikita Gorbunov. Mit seinen Mitstreitern organisiert er die deutschen Meisterschaften der Slam-Poeten. Ein Gespräch über Kalauer, Kleinkunst und Bildungsbürger.

Herr Gorbunov, was bitte ist ein Poetry-Slam?
Wir haben die Definition, die wir anmoderieren, und wir haben die Realität. Die Anmoderation lautet: Poetry-Slam ist der moderne Dichterwettstreit, bei dem Poeten aller Art selbst verfasste Texte im Rahmen eines Zeitlimits vortragen. Das sind die wichtigen Elemente: eigener Text, keine Hilfsmittel, Zeitlimit, das Publikum entscheidet.
Und die Realität?
Es ist eine Weile unentschieden gewesen, wohin der Poetry-Slam tendiert. Ist es eher eine Spielart der Hochkultur, eine Spielwiese für junge Intellektuelle, die in Richtung klassische Literatur gehen? Oder aber ist es eher ein unterhaltungsgeprägtes Format? Im deutschsprachigen Raum ist die Entscheidung eindeutig gefallen: Wir sind die zuschauerstärkste Kleinkunst.
Gibt es eine Erklärung dafür?
Slams sind zugänglich, weil sie günstig sind. Die Künstler bekommen Fahrtgeld und sind zufrieden damit. Das heißt, der Eintrittspreis kann niedrig bleiben. Die Show ist immer gut, immer anders, das Format ist der Star, und es ist wahnsinnig in die Breite gegangen. Im Kabarett ist es dagegen auf jeder Ebene relativ schlank. Kabarettisten erreichen recht schnell relativ hohe Gagen, und dann geht es auch schon ins Fernsehen. Beim Poetry-Slam hat man einen gewaltigen Mittelbauch an Shows, an denen Leute teilnehmen können.
Apropos Kabarett. Eine Zeit lang gab es ja die Diskussion, die Slams seien nur noch Klamauk. Tobt der noch?

Dieser Wettstreit Witzige gegen Lyriker, der lässt sich ja schön zuspitzen. Meiner Erfahrung nach ist auf den Bühnen Platz für alles. Ich sehe diesen Gegensatz nicht. Aber klar, wenn man so will, haben die Klamauker nach Punkten gewonnen, weil die immens mehr Gagen bekommen. Witzige Leute erzielen höhere Einkommen, da gibt es viel mehr Anknüpfungspunkte, die können in mehr Formate rein. Lyriker sind immer darauf angewiesen, dass die subventionierte Hochkultur kommt und sie entdeckt.

 
Die einen ins Stadttheater, die anderen ins Fernsehen?
Ja. Marc-Uwe Kling mit seinem Känguru war mal ein Slammer. Oder Sebastian Krämer und Gabriel Vetter. Doch das sind die Ausnahmen. Wie gesagt, die meisten treten für Fahrtgeld auf und dichten als Hobby. Das ist auch Teil des Geheimnisses, warum wir immer noch beliebt sind. Einmal können wir in die Liederhalle und in die kleinste Kneipe, das Format funktioniert überall. Und dann erneuert sich die Szene ständig. Das Publikum wählt sich seine Show zusammen, das Programm ändert sich ständig.
Und wie wird das Programm bei den deutschen Meisterschaften sein?
Wir sind gespannt, was auf uns zukommt. Die deutschen Meisterschaften sind der Ort, wo alle sehen, was ist jetzt modern. Die letzte Saison hörte man Balladen mit vielen Binnenreimen, die von der Ästhetik an den Deutschrap der 2000er erinnern. Aber das gilt eben für die vergangene Saison.
Wie haben sich die Teilnehmer denn qualifiziert?
Es gibt ein extrem kompliziertes ausdifferenziertes Nominierungsverfahren, die sogenannte Surmann-Poeck-Formel. Die funktioniert folgendermaßen: Es werden die 56 ältesten Poetry-Slam-Shows in Deutschland genommen, die schicken ihre Vertreter. Dazu kommen die Gewinner der 13 Landesmeisterschaften in der Bundesrepublik.
Dreizehn?
Ja. Wir haben die Reform der Bundesländer vorweggenommen. Das Saarland ist ganz weg, Berlin und Brandenburg sind zusammengelegt sowie Bremen und Niedersachsen. Dann jährlich wechselnde 13 Poetry-Slams aus den Meisterschaftsgebieten. Und acht Schweizer Startplätze, acht österreichische Startplätze, ein Startplatz für Luxemburg, ein Startplatz für den Titelverteidiger und die zehn Finalisten der Jugendmeisterschaft U 20.
Dagegen ist der European Song Contest ja ein Kindergeburtstag.
Es heißt seit zehn Jahren, das sei reformbedürftig. Aber der Star ist der Slam. Und nicht die Person. Deshalb erfolgt die Nominierung auch über die einzelnen Slam-Veranstaltungen.
Und wie wird man Ausrichter der deutschen Meisterschaften?
Wir haben uns beworben, und man bekommt das Festival übertragen von der Szene. Bei uns ist das ja alles in einer Hand. Wir haben angefangen zu veranstalten, um selbst auf der Bühne zu stehen oder unsere Freunde auf der Bühne zu sehen. Das ist jetzt die weiteste Abstraktion, wenn man dieses Festival mit insgesamt 10 000 Zuschauern plant und organisiert. Wir arbeiten seit zwei Jahren daran und freuen uns total, dass es jetzt so weit ist. Aber gleichzeitig haben wir auch Bammel, dass alles klappt.
Als Migrantenkind sind Sie ja ein ziemlicher Exot in der Szene?
Das ist ein wunder Punkt. Wir haben keine Migranten, nur so Migranten wie mich. Und als Migrant bin ich ein totaler Versager. Ich bin eine wandelnde Erfolgsgeschichte und komme aus einer total bürgerlichen Welt. Ich wurde sozialisiert über Gymnasisten-Backpacker-Rap. Wir haben so was gesagt wie: „Eine Liebe, eine Welt, jeder tut nur das, was ihm gefällt.“
Da war noch Luft nach oben.
Durchaus. Das war Abiturientenreimerei. Bestimmte Milieus steuern bestimmte Subkulturen an. In der Slam-Szene haben fast alle ganz klassisch linke Bürgeransichten. Wir sind uns alle erschreckend einig in unseren Ansichten. Wir fühlen uns als wahnsinnig offene Szene, aber faktisch ist es halt nicht so. Nichts ist schwieriger als das, was wir machen. Mehrfach ironisch gebrochene, über drei Metaebenen changierende Unterhaltungsstücke aktuellster Art. Mit massig Slang. Menschen müssen absolut perfekt Deutsch sprechen, um das zu verstehen.
Aber es gibt doch viele Migranten, die perfekt Deutsch sprechen?
Natürlich. Aber schauen Sie, es gibt wenige türkischstämmige Schauspielschüler. Und beim Studium Philosophie auf Lehramt haben sie eine Migrantenquote von null Komma null. Aber nicht weil sie ausgeschlossen sind, sondern weil das eine kryptische Kultur für sie ist. Deine Eltern müssen in der dritten Generation hier sein, damit sie ertragen, dass das Kind Künstler wird. Ich werde Dichter, sag das mal einem gestandenen Baba, der sein Leben lang malocht hat, damit der Sohn Anwalt oder Ingenieur wird. Aber man muss sagen, hier ist es etwas anders.
Inwiefern?
Es ist typisch für Stuttgart, dass es viele Leute gibt, die diese Grenze längst überwunden haben. Die kommen zum Slam. Aber das sind Menschen, die vollständig assimiliert sind. Nehmen Sie mich: Ich verhalte mich ja auch nicht wie ein Russe.
Wie verhält sich ein Russe?
Er hört Slawenmucke, isst Soljanka. Es gibt dieses Vorurteil, wenn du Migrationshintergrund hast, würdest du diese Kultur der Migration weitertragen. Der Witz ist aber, sobald die Leute assimiliert sind, verlassen sie diese Sphäre und fangen an, Häusle zu bauen und AfD zu wählen. Sobald deine Kids auf dem Gymnasium sind, bist du kein Kanake mehr, bist du eine respektable Familie mit einem interessanten Hintergrund.
Gelingt es, mit Ihren Workshops dieses Muster aufzubrechen?
Ich bin ja kein Sozialarbeiter. Ich möchte den Kids diese große, tolle Spielwiese anbieten, auf dass sie sie entdecken. Zuwendung funktioniert immer. Vielen macht das Schreiben keinen Spaß, aber das Ergebnis freut alle. Ich sage einfach, erzähl deine Gefühle. Die tun es, da kommt abgefahrenes Zeug raus, niemand kann sich dagegen wehren, was das Schreiben mit einem macht.
Wollen die nicht ohnehin alle rappen?
Was für ein furchtbares Stereotyp. Nein, Hauptschüler rappen nicht alle. Vielleicht hätten die mal Lust auf Ballett? Diese Klischees zu erfüllen ist doch furchtbar langweilig. Brüche sind weitaus interessanter.
Slammen die Kids dann auch?
Der Zauber ist der Prozess. Vorlesen ist ein Abschluss für sie selbst. Auf die Bühne gehen aber nur die wenigsten. Sich so vorzuführen ist ja eine Art Persönlichkeitsfehler. Es ist die Unfähigkeit, das bleiben zu lassen.
Diese Unfähigkeit haben Sie ja auch. Wie schwer fällt es da, nur zuzuschauen?
Ich schaue ja nicht nur zu. Ich moderiere beim Finale. Aber ich freue mich total auf die Kollegen. Es geht ja um was. Ansonsten ist der Wettbewerb nur Dramaturgie fürs Publikum. Aber deutscher Meister wollen alle werden. Dementsprechend treten sie auf. www.stuttgarter-zeitung.de/poetryslam www.stuttgarter-nachrichten.de/poetryslam