Der mutmaßliche Mörder hat sich nicht sonderlich bemüht, Spuren zu vertuschen. Nur durch „Kommissar Zufall“ gelangten die Ermittler auf seine Spur.

Stuttgart - Als wäre kein Tag vergangen seit dem Tag, an dem Tobias ermordet worden ist. Dass die Hütte des örtlichen Fischereivereins, hinter welcher der Junge lag, längst abgerissen ist; dass das Holzkreuz nicht mehr steht; dass frisches Gras über die Ufer des Weihers im Dörschachtal gewachsen ist – all das war am Dienstag wie weggeweht. Im Sitzungssaal eins des Landgerichts Stuttgart erlebten die Eltern den 30. Oktober 2000, den Abend, an dem sie ihren leblosen Jungen seltsam verrenkt, mit halb geöffneten Augen im Schein der Taschenlampe liegen sahen, noch einmal.

 

„Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Tag“, sagt die Polizeiobermeisterin, die in der Böblinger Wache zugegen war, als Tobias Eltern ihren Jungen als vermisst meldeten. Sie war in jener Nacht zur Streife eingeteilt. „Ich traf die Eltern am Weiher.“ Haargenau schildert sie, wie sie gegen 22 Uhr den See bei Weil im Schönbuch, in dem der Elfjährige geangelt hatte, umrundeten, als der Vater plötzlich sagte: „Da liegt er.“ Und die Polizeibeamtin wusste sofort: „Das war kein Unfalltod. Der Junge ist umgebracht worden. Und er hat gelitten.“

Ein paar Minuten hin oder her

Immer wieder stockt ihr die Stimme, als sie im Zeugenstand so gegenwärtig schildert, was vor mehr als einem Jahrzehnt passiert ist. „Ich habe den Vater in den Arm genommen. Es war, als ob ich einen Toten umarmte.“ Dann der fürchterliche Schrei, als er seiner Frau sagte: „Der Junge ist tot.“

Als der Vater das hört, er sitzt nur ein paar Meter von der Zeugin entfernt im Saal, presst er die Zähne fest zusammen. Auch die Oma des Jungen und sein Onkel sitzen im Zuschauerraum. Es kostet Kraft, nach hinten zu schauen. Sich zu verdeutlichen, dass ein paar Minuten hin oder her den Jungen hätten retten können: um 17.30 Uhr jenes Herbsttages sollte Tobias zu Hause sein. Gegen 17.30 Uhr, sagt der Angeklagte, habe er den Elfjährigen zufällig da sitzen sehen. „20 Jahre habe ich diese Fantasie unterdrückt. An diesem Tag war die Chance da“, sagte er am ersten Verhandlungstag aus, als er die Tat gestand und mit gestörten sexuellen Motiven begründete.

„Mir war scheißegal, wenn die mich schnappen“

„Wir können gerne unterbrechen“, wendet sich die Richterin an die Polizeiobermeisterin. Aber die will ihre Aussage hinter sich bringen in dem Mordfall, der zu lange als ungeklärt galt. Im Oktober 2009 verschwand der 500 Seiten starke Abschlussbericht mit bis dato mehr als 2200 ergebnislosen Spuren und 12 700 DNA-Proben in den Ablage.

Dabei hatte der mutmaßliche Mörder, ein heute 48 Jahre alter Bäcker aus Filderstadt, sich nicht sonderlich gemüht, Spuren zu beseitigen. Das Butterflymesser, mit dem er laut Anklage 38-mal auf den Jungen einstach, habe er im Hausmüll entsorgt. Er scheute nicht mal den Weg zur Polizei, als er bei einem Ebay-Kauf betrogen wurde. „Hätte der Kollege gewusst, wer ihm da gegenübersaß . . .“, denkt ein Kommissar laut, der ebenfalls als Zeuge vor dem Landgericht aussagt.

„Mir war scheißegal, wenn die mich schnappen“, sagt der Angeklagte. Deswegen habe er, der sich selbst als Computerfreak bezeichnet, auch nie seine IP-Adressen verschlüsselt, wenn er auf Kinderpornoseiten surfte. Im Februar 2011 bot er selbst so ein Video an. Erst dadurch gelangten die Ermittler auf seine Spur, „Kommissar Zufall“, wie die Vorsitzende es nennt.

„Er war für die Kripo ein weißes Blatt.“

Beim Durchsuchen seiner Wohnung vergangenen August fanden die Beamten Softairwaffen, Schwerter und stießen schließlich auf Fotos von Tobias’ abgetrennten Geschlechtsteilen und Zeitungstexte über Morde an anderen Kindern. „Mich hat interessiert, was die anderen mit denen gemacht haben“, sagt der Angeklagte. Stunden nach Beginn der Durchsuchung wurde er festgenommen und legte noch im Einsatzfahrzeug ein Geständnis ab.

„Er hat keine sozialen Bindungen, ein kompletter Einzelgänger“, berichtet ein Vernehmungsbeamter. Der Angeklagte führte keine Beziehungen, dafür suchte er gelegentlich homosexuelle Kontakte an einem Baggersee in Kirchentellinsfurt, wo er auch nackte Kinder aus einem Busch heraus fotografierte. Auffällig wurde er bei alldem nie, bestätigt ein Polizist: „Er war für die Kripo ein weißes Blatt.“