Kaum ein deutscher Songschreiber wird von Musikern, Kritikern und Publikum gleichermaßen verehrt wie Rio Reiser. Fachleute und geneigte Hörer schwärmen davon, mit welch wunderbaren Zeilen er in Liebesliedern wie „Junimond“ oder „Für immer und Dich“ Gefühlsturbulenzen beschrieben hat. Und schätzen den rauen Bluesrock mit politischen Schlachtrufen wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, durch den er mit seiner Band Ton Steine Scherben im piefigen Deutschland der 1970er-Jahre kräftig durchgelüftet hat. Es ist also fast folgerichtig, dass dem 1996 im Alter von nur 46 Jahren verstorbenen Sänger vom Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach posthum der rote Teppich ausgerollt wurde. Reiser ist der erste Popmusiker, dessen Nachlass nun im DLA aufbewahrt wird.
Musiker, der in der Literatur zuhause ist
„Diese Entscheidung ist uns leicht gemacht worden“, sagt Gunilla Eschenbach vom DLA. Reiser, der als Ralph Christian Möbius geboren wurde, sei ein großer Name. „Und wir sammeln schon auch das, was auf die deutschsprachige Literatur und Kultur wirkt“, erklärt Eschenbach. Zudem sei der Songschreiber im Theater verwurzelt und in der deutschen Literatur zuhause, was sich schon am Pseudonym ablesen lasse, das sich an den Roman „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz anlehne. Die Verantwortlichen des DLA schlugen folglich erfreut ein, als Gert und Peter Möbius 2016 auf das Archiv in Marbach zukamen und anboten, das künstlerische Erbe ihres Bruders zu stiften.
Ausgehändigt wurde das Text-, Bild- und Tonmaterial 2019. Einzelne Stücke daraus sind in einer Ausstellung namens „Singen! Lied und Literatur“ im benachbarten Literaturmuseum der Moderne noch bis Februar zu sehen. Aber das ist nur ein klitzekleiner Ausschnitt aus all den Schätzen, die die Möbius-Brüder dem DLA überlassen haben. In den Tiefen des Archivs sind allein 75 Schachteln mit Schriftgut verwahrt. Man findet dort unter anderem Liedtexte, Entwürfe zu Songs und Drehbücher.
Die ideale WG
Stundenlang könnte man sich in den Notizbüchern vergraben, die Rio Reiser teils mit Kritzeleien, teils mit ausgereiften Zeichnungen versehen hat. Hier hat er auch musikalische Ideen und Texte notiert – und Gedanken niedergeschrieben, die er sich über Gott und die Welt gemacht hat. Zum Beispiel dazu, wie er sich in architektonischer Hinsicht die perfekte Kommune ausmalt. Im Mittelpunkt, fand Reiser, müsse das Gemeinschaftszimmer, der „Raum des Gruppengeistes“, liegen. Drumherum sind kreisförmig einzelne Zimmer angeordnet, jeweils mit einer Schiebetür ausgestattet, über die die Bewohner in den zentralen WG-Saal gelangen. „Wenn alle Türen der einzelnen Zimmer geöffnet sind, ist die Trennung zwischen Gemeinschaftszimmer und den einzelnen Zimmern aufgehoben“, erläuterte Reiser.
Für Fans und Biografen von Interesse sind zudem Videos, die der Musiker selbst drehte, zum Beispiel vom 80. Geburtstag seiner Mutter. Auf welche Filmbeiträge Reiser stand, davon legt seine Sammlung von VHS-Kassetten Zeugnis ab. „Analog zur Autorenbibliothek haben wir eine Art Videobibliothek“, erklärt Gunilla Eschenbach. Wer sich eher für den Konzertalltag von Ton Steine Scherben interessiert, kommt ebenfalls auf seine Kosten. Tourpläne aus dieser Zeit sind erhalten, in denen akribisch festgelegt wurde, wer fürs Essen oder den Einkauf zuständig ist. Ordentlich demokratisch wurde sogar abgestimmt, was abends im Fernsehen angeschaut werden sollte. Als Managerin mit an Bord war seinerzeit übrigens die heutige Kulturstaatsministerin Claudia Roth.
Unveröffentlichte Interviews
Das Herzstück der Sammlung ist das Bild- und Tonmaterial zur Musik von Reiser. Mit am eindrücklichsten sind für DLA-Mitarbeiter Henning Geiss die Bänder eines Live-Mitschnitts aus der Hamburger Markthalle vom 28. Februar 1982. „Das sind die original Einzelspuren der Rockpalast-Produktion“, sagt er. Kaum mit Geld bezahlbar sind auch die Masterbänder der Ton-Steine-Scherben-LPs. Kenner können damit Spuren isoliert hören und beispielsweise nur den Gesang zum Klingen bringen. „Es sind auch viele Skizzen und Demos vorhanden“, sagt Geiss. So könne man die Genese eines Songs nachvollziehen. Eine Fundgrube für Reiser-Liebhaber und eine kleine Sensation sind die Kassetten, auf denen bisher unveröffentlichte Interviews abgespeichert sind, die bei dem Künstler zuhause aufgenommen wurden.
Text plus Stimme als Vollendung
„Was er gemacht hat, ist bis heute in der Musikindustrie relevant“, fasst Geiss zusammen. Er und Gunilla Eschenbach heben zugleich hervor, dass auch die Qualität der Texte den DLA-Qualitätsstandards genügt. „Er war wahnsinnig kreativ. Es ist wie bei jedem vielleicht nicht alles unvergänglich. Aber das sind richtig gute Texte. Sie funktionieren auch als Texte an sich, ganz ohne Musik. Und wenn dann noch seine Stimme dazukommt, ist es die Vollendung“, sagt Eschenbach, die andeutet, dass Reiser nicht der einzige populäre Liedermacher im Portfolio des Archivs bleiben wird. „Wir sind mit jemandem im Gespräch, der auch eine ganz enge Bindung an die Literatur hat. Mehr kann ich aber noch nicht verraten“, erklärt sie.
Mehrere Wegbegleiter in Marbach
Gäste
Ausgewählte Videos, Sounds, Songentwürfe und Fotos aus dem Nachlass werden am Samstag, 20. Januar, um 19.30 Uhr im Humboldt-Saal des Deutschen Literaturarchivs in Marbach von Gunilla Eschenbach und Henning Geiss vorgestellt – und mit prominenten Weggefährten des Musikers besprochen. Zu Gast ist unter anderem Sybill Möbius, die mit Reiser künstlerisch kollaborierte und Ehefrau von Reisers vor wenigen Jahren verstorbenen Bruder Peter Möbius war. Das DLA bittet um Anmeldung unter museum@dla-marbach.de.
Konzert
Schon am Freitagabend, 19. Januar, um 20 Uhr treten zusammen mit Birte Volta im Café Provinz Kai Sichtermann und Funky K. Götzner auf, die einst mit Rio Reiser bei Ton Steine Scherben spielten. Sichtermann ist tags darauf auch bei der Veranstaltung im Literaturarchiv dabei.