Berthold Leibinger hat aus dem „Fabrikle“ Trumpf ein Weltunternehmen gemacht. Aus dem Lehrling von einst wurde der Patriarch. Jetzt ist er im Alter von 87 Jahren gestorben.

Stuttgart - Diese Szene hat Berthold Leibinger einfach nicht losgelassen. Immer wieder hat er den Ablauf jenes Sonntagmorgens im März 1989 geschildert, bei dem er selbst, der Chef des heimischen Maschinenbauers Trumpf, im Mittelpunkt stand. An diesem Tag hat er auf dem kleinen Stand seines Unternehmens bei der Leipziger Frühjahrsmesse die DDR-Politprominenz mit SED-Parteichef Erich Honecker an der Spitze empfangen. Das wäre schon unter normalen Umständen bemerkenswert gewesen. Nie zuvor hatten Honecker & Co. einem mittelständischen Familienunternehmen ihre Aufwartung gemacht; die westdeutsche Wirtschaft, das war für die SED die Welt der Konzerne, bevorzugt mit Sitz an Rhein und Ruhr.

 

Aber an diesem Tag waren die Umstände nicht normal. An der innerdeutschen Grenze war wieder geschossen worden, weshalb die Bundesregierung ihre Teilnahme an dem Treffen absagte und der baden-württembergische Wirtschaftsminister Martin Herzog im Hotel blieb. Leibinger empfing die DDR-Delegation ohne Unterstützung der Bonner Politik. Alle waren hochgradig nervös, als Honecker und seine Vasallen leichenblass und mit starrer Miene wie die Roboter auf den Trumpf-Stand zumarschierten. Stocksteif ging es zu, als der Vertrag mit dem „Werkzeugmaschinenkombinat 7. Oktober“ offiziell besiegelt wurde. Dass das Kombinat Laser bei einem westdeutschen Mittelständler kaufen musste, erwies sich erst später als Fingerzeig; im Frühjahr 1989 deutete noch nichts darauf hin, dass die DDR-Wirtschaft de facto vor dem Kollaps stand. Im Gegenteil, Honecker salbte die Zusammenarbeit als Beitrag der DDR zum Abbau von Arbeitslosigkeit „in der BRD“. Leibinger gelang es mit einem Satz, die angespannte Situation zu retten, ohne den politischen Dissens zu ignorieren. „Der Laser ist ein Werkzeug“, so sagte er über die von Trumpf wesentlich vorangetriebene Innovation, „mit dem man trennen oder verbinden kann – es kommt nur auf die Einstellung an.“

Trumpf? Schokolade oder Wäsche?

Nachzulesen ist die Geschichte in Leibingers Autobiografie „Wer wollte eine andere Zeit als diese“, die er „einen Lebensbericht“ nennt und die 2010 erschienen ist. Dass der Titel kein Fragezeichen enthält, ist programmatisch zu verstehen; es war für ihn im wahrsten Sinne des Wortes keine Frage. Das Leben hat ihn durchaus verwöhnt, was er nie bestritten, nur eingeschränkt hat: „Zugeflogen ist mir nichts.“ Spätestens seit der Leipziger Messe 1989 waren Trumpf und Leibinger in aller Munde. Da hatte sich herumgesprochen, dass Trumpf Maschinen baut. Auf dem Messestand kannten die anwesenden Besucher noch eher die gleichnamige Schokoladenmarke oder den ähnlich klingenden Wäschehersteller (Triumph). Zumindest mit zeitlichem Abstand konnte Leibinger über diese mangelnde Kenntnis seiner Branche auf die ihm eigene herzhafte Art lachen.

Welch eine Geschichte. Da ist er, der junge Mann, geboren 1930, der bei Trumpf 1950 ganz klein angefangen hat, als Lehrling. Und Jahrzehnte später gehörte ihm der ganze Betrieb. Eigentümer Christian Trumpf hatte Leibinger die Möglichkeit zum Erwerb von Anteilen geboten, als der gebürtige Stuttgarter nach Studium und US-Aufenthalt 1961 als Leiter der Konstruktionsabteilung zurückkam. Mitte der sechziger Jahre war es soweit. Leibinger setzte Lizenzeinnahmen aus Erfindungen sowie Kredite ein und erwarb die ersten Anteile an dem Spezialisten für das Nibbeln von Blech; so nennen die Fachleute das schrittweise Stanzen. Danach stieg Leibingers Anteil Schritt für Schritt, und zugleich verwandelte sich Trumpf.

Trumpf war Vorreiter beim Einsatz des Lasers

Als Leibinger 1966 Geschäftsführer und Gesellschafter wurde, da kam der damals noch in Stuttgart-Weilimdorf ansässige Betrieb, der erst 1972 nach Ditzingen umzog, mit 440 Mitarbeitern gerade mal auf umgerechnet zehn Millionen Euro Umsatz. Zum Vergleich: Im Geschäftsjahr 2017/18 kam Trumpf mit mehr als 13 500 Mitarbeitern auf 3,6 Milliarden Euro Umsatz. Aus einer mechanischen Werkstatt ist, angetrieben von Leibinger, in dieser Zeit der Weltmarktführer für computergesteuerte Maschinen zur Bearbeitung von Blech geworden, der zugleich Vorreiter beim Einsatz des Lasers war. Das ist auch ohne Kenntnis der Firmenhistorie zu besichtigen: auf dem Firmenareal nahe der A 81, wo aus einem „Fabrikle“ über die Jahre hinweg „Trumpf-City“ entstand, an manchen Stellen mitgestaltet von der renommierten Architektin Regine Leibinger, Bertholds Tochter.

Wer so gewachsen ist wie Trumpf, kann eigentlich keine ernsten Krisen erlebt haben. Oder? Doch das konjunkturelle Auf und Ab, das für die Branche typisch ist, ging auch an Trumpf nicht vorbei. Im Interview mit unserer Zeitung anlässlich seines 75. Geburtstags erinnerte sich Leibinger an eine für ihn traumatische Erfahrung: „Wir haben einmal 42 Kündigungen aussprechen müssen. Das war Anfang der neunziger Jahre, aber das geht mir heute noch nach.“ So gilt Trumpf nicht nur wegen seines Erfolgs, sondern auch wegen der sozialen Einstellung als Vorzeigeunternehmen – auch unter Nicola Leibinger-Kammüller, seiner ältesten Tochter und Nachfolgerin, die 2005 überraschend den Vorzug vor ihrem Bruder Peter erhielt.

Am Ende stand die Entscheidung für etwas „Handfestes“

Als junger Mann rang Leibinger lange mit sich, ob er bei der Berufswahl seinen Neigungen zu Philosophie, Literatur und Theologie folgen oder etwas „Handfestes“ lernen sollte. „In der Familie lebten immer Interesse an industrieller Produktion und Freude an der Kunst nebeneinander“, schrieb er in seinen Erinnerungen. So hatten seine Eltern eine Kunsthandlung (Ostasiatika) in Stuttgart, die auf seine Mutter zurückging; sein Vater befasste sich zunächst mit dem Vertrieb chirurgischer Instrumente aus einer kleinen Fabrik seiner Verwandtschaft. Berthold hatte Bedenken: „Das Maschinenbaustudium bietet wenig Anregung, über Gott und die Welt nachzudenken“, sagte er, setzte schließlich aber doch auf die Technik, machte nach dem Abitur eine Lehre bei Trumpf und studierte in Stuttgart Maschinenbau.

Mit Musik und Literatur hat sich Leibinger dann neben seiner unternehmerischen Tätigkeit beschäftigt; besonders am Herzen lagen ihm die Bachakademie und das Literaturarchiv in Marbach. Seine 1992 gegründete Berthold-Leibinger-Stiftung fördert kulturelle, wissenschaftliche, kirchliche und soziale Belange wie das Hospiz Stuttgart und die Bibliothek verbrannter Bücher. Ende 2016 half sie beim Erwerb der Thomas-Mann-Villa in Kalifornien, die zu einem Zentrum des kulturellen und politischen Austauschs werden soll.

Verzicht auf Jagd, Yacht und Golf

Damit nicht genug, hat sich Leibinger auch für die Belange der Wirtschaft eingesetzt, war unter anderem Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart sowie des deutschen Maschinenbauverbands und leitete in Baden-Württemberg die vom damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel initiierte Zukunftskommission Wirtschaft 2000. Die häufig gestellte Frage danach, wie all diese Interessen unter einen Hut zu bringen sind, hat Leibinger stets augenzwinkernd mit Verweis auf den konsequenten Verzicht auf Jagd, Jacht und Golf beantwortet.

Ein wenig ruhiger hat er es angehen lassen, seit Tochter Nicola mit ihrem Bruder Peter und ihrem Ehemann Mathias Kammüller die Geschicke von Trumpf lenkt. Aber Müßiggang ist ihm stets fremd gewesen. Und deshalb hat er im fortgeschrittenen Alter von 82 Jahren in Angriff genommen, wofür zuvor keine Zeit war: die Promotion. Unter dem Titel „Erfahrungen, Erfolge, Entwicklungen. Der Weg der Werkzeugmaschinenindustrien in Deutschland, Japan und den USA“ hat er an der Universität Wien 2014 seine Dissertation vorgelegt.

Ein Maschinenbauer durch und durch

Wie ist das zu schaffen? Die Antwort hat Leibinger in seiner Autobiografie gegeben: „Neugier steht ganz vorne“, hat er sein Erfolgsrezept beschrieben. „Man muss Unbekanntes wissen wollen.“ Aber ihm ist auch klar gewesen, dass Neugier an Grenzen stößt. So hat er sich als „Maschinenbauer durch und durch“ beschrieben. Im Zeitalter der Digitalisierung reicht das allerdings nicht mehr aus. So hat er dann auch unumwunden eingestanden, froh darüber zu sein, dass jetzt die jüngere Generation am Ruder ist, denn: „Ich bin in dieser digitalen Welt nicht groß geworden. Das ist eine neue Welt.“

Im Alter von 87 Jahren ist Berthold Leibinger am Dienstag verstorben.