Egon Bahr, der frühere enge Vertraute des SPD-Kanzlers Willy Brandt und Ex-Bundesminister, ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Seine Politik des „Wandels durch Annäherung“ ermöglichte ein besseres Verhältnis zur DDR.

Berlin - Es mag an den biographischen Umständen liegen, dass das Politische im Leben Egon Bahrs eine zentrale Stelle einnahm. Es war ein Leben in und mit der Politik. Weil der Vater, ein Lehrer, sich in der NS-Zeit nicht von seiner Frau trennen wollte, die jüdischer Abstammung war, wurde er aus dem Staatsdienst entlassen. Aus eben diesen Gründen wurde Egon Bahr nicht zum Studium zugelassen, gleichwohl aber, nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann, zum Kriegsdienst eingezogen. Nach all diesen Erfahrungen lautete seine Devise: „Ohne Frieden ist alles nichts“, ein Motto, dem er als politischer Journalist glaubte am besten dienen zu können. Nach Korrespondentenjahren in Hamburg und Bonn wurde er von 1950 an Kommentator beim Berliner Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS), wo er den Aufstand in Ost-Berlin am 17. Juni 1953 hautnah miterlebte.

 

Mit seinen eher spröden, strikt auf die politischen Vorgänge bezogenen Kommentaren erregte er Aufsehen. Der eigenwillige, nonkonformistische Denker fiel auch Berlins Regierendem Bürgermeister Willy Brandt auf, der ihn 1960 an die Spitze des Presse- und Informationsamtes berief. Es war eine Wahl, die die Außen- und Deutschlandpolitik der Bonner Republik verändern sollte. Ohne Willy Brandt, dem er eng verbunden blieb, wäre Bahrs Karriere nicht möglich gewesen. Von nationalistischen Anflügen nicht ganz frei, hatte ihn die deutsche Teilung immer schon beschäftigt. Doch erst der Bau der Berliner Mauer im Sommer 1961 setzte bei ihm einen Denkprozess in Gang, der dann das Verhältnis Bonns zum Ostblock verändern sollte. „Wir mussten“, sagte Bahr später, „vom gefährdeten Berlin aus auch nach Osten blicken, als klar war, dass sich die westlichen Schutzmächte darin einig waren, nichts zu unternehmen.“ Egon Bahr kam zu dem Schluss, dass die Deutschen sich selber helfen mussten.

Bahr schlug vor, die DDR zu entdämonisieren

Aber Veränderungen anzustreben hieß zunächst einmal, die Wirklichkeit anzuerkennen. Bahr stellte mutig der zum Ritual erstarrten Wiedervereinigungsrhetorik die Einsicht entgegen, „dass jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos ist“. Er wusste und sagte auch öffentlich, dass die Wiedervereinigung ein „Prozess mit vielen kleinen Schritten und vielen Stationen“ sei und vor allem nicht gegen die Sowjetunion erreicht werden könne: „Der Schlüssel liegt in Moskau.“ Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing schlug Bahr 1963 vor, die DDR zu entdämonisieren, und er prägte dafür die Formel „Wandel durch Annäherung“. Um einigermaßen erträgliche Verhältnisse zu schaffen, müssten Demokratie- und Menschenrechte vorerst zurücktreten. Das trug ihm heftige Kritik von konservativer Seite ein, und sogar der Parteifreund Herbert Wehner sprach von einer „Narretei“. Doch um menschliche Erleichterungen zu erreichen und die Mauer durchlässiger zu machen, musste das Misstrauen in Moskau abgebaut werden. Als Willy Brandt 1969 Kanzler wurde, leitete er, gestützt auf die Pläne Egon Bahrs, eine neue Ostpolitik ein. Die DDR sollte als „Staat“ akzeptiert werden, ohne zugleich Ausland zu sein.

Diese neue Ostpolitik wäre nicht möglich gewesen ohne die Zustimmung Washingtons. Außenminister Henry Kissinger war skeptisch, doch Bahr entgegnete ihm lapidar: „Ich bin nicht hierher gekommen, um zu konsultieren, sondern um zu informieren.“ Wenn Bonn eine Verständigung mit dem Osten wollte, so wie Adenauer sie mit dem Westen erreicht hatte, dann musste die neue Bundesregierung ein selbstständig handelnder Faktor werden und die deutsche Interessenlage herausarbeiten. Willy Brandt schickte seinen Vertrauten Egon Bahr nach Moskau, der rasch anfängliche Schwierigkeiten überwand.

Bahr hatte seine Vertrauensleute in Moskau

Der Unterhändler aus Bonn bot dem Kreml einen Gewaltverzicht an sowie eine Klärung der strittigen Grenzfragen. Es gab insgesamt vierzehn Unterredungen mit Außenminister Gromyko. Die Öffentlichkeit erfuhr zunächst nichts, was Spekulationen Tür und Tor öffnete. Bahr hatte seine Vertrauensleute in Moskau. Er nutzte gerne Wege der Geheimdiplomatie, und geriet deshalb in Verdacht, Politik auf eigene Faust zu betreiben. Aber in Wahrheit ging es ihm immer nur um die deutsche Frage.

Das Ergebnis war das „Bahr-Papier“ vom Mai 1970. Darin wurden die bestehenden Grenzen als unveränderlich anerkannt und die Wiedervereinigung in einem gesonderten Brief festgehalten. In Bonn löste das empörte Reaktionen aus. Die CDU/CSU verwahrte sich gegen die „Preisgabe nationaler Besitzstände“, manche sprachen sogar von einem „zweiten Versailles“. Tatsächlich aber ging es darum, sich mit der Nachkriegsordnung abzufinden und die Realitäten anzuerkennen. Letztlich bedeutete die neue Ostpolitik auch eine Art Selbstanerkennung der Bundesrepublik, die sich auf das ihr Mögliche beschränkte. Brandt und Bahr war ja nicht entgangen, dass Washington auf seine Art einen Kurs der Entspannung eingeleitet hatte, weshalb Bahr forderte, die Bundesrepublik „vor den Wind der weltpolitischen Entwicklung zu bringen“. Für ihn war Entspannungspolitik die „Fortsetzung der Strategie des Gleichgewichts unter Hinzuziehung anderer Mittel“.

Bahr hoffte lange auf eine Liberalisierung im Osten

Erst als der Moskauer und dann auch der Warschauer Vertrag sowie das Viermächteabkommen über Berlin im Juni 1972 in Kraft traten, konnten zwischen Egon Bahr und dem DDR-Unterhändler Michael Kohl nun auch innerdeutsche Gespräche beginnen. Deren Ziel war, die Einheit der Nation zu wahren. Mit dem „Grundlagenvertrag“ wollte man Beziehungen der besonderen Art pflegen. Für Bonn bedeutete das einen tiefen Einschnitt. Die Bundesrepublik gab den Alleinvertretungsanspruch auf, beide Staaten wurden 1973 Mitglieder der Vereinten Nationen. Doch während Bonn von zwei deutschen Staaten, aber nur einer Nation ausging, brach die SED die nationalen Brücken ab. Während Bahr auf eine Liberalisierung im Osten gehofft hatte, perfektionierte die DDR ihre Grenzanlagen. Die Mauer wurde nahezu unüberwindbar.

Am Ende gewinnt der SPD-Politiker

Wo also lag der Fortschritt? Bahr tröstete sich mit dem Gedanken, bisher habe man gar keine Beziehungen mit der DDR gehabt, nun habe man immerhin „schlechte Beziehungen“. Wahr ist aber auch, dass die damalige Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nur möglich wurde auf der Basis der deutschen Ostverträge. Die 1975 in Helsinki unterzeichnete Schlussakte sah auch vor, die zwischenmenschlichen Beziehungen auszubauen. Das wirkte wie ein Stachel in den kommunistischen Systemen. Die KSZE-Beschlüsse trugen wesentlich bei zu Gorbatschows Reformpolitik, die wiederum die deutsche Wiedervereinigung erst möglich machte. Am Ende hatte also Egon Bahr doch gewonnen.

Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik kümmerte sich Egon Bahr auch noch im hohen Alter intensiv um sein Lebensthema Frieden, Sicherheit und Abrüstung. Mit Genugtuung konnte er im Rückblick feststellen, dass er dazu beigetragen hatte, die Welt im positiven Sinne zu verändern.