Im Schauspielhaus zeigt Armin Petras seine Inszenierung von „Nathan der Weise“ – und verliert sich dabei im Durcheinander der Einfälle.

Stuttgart - Ja, nach der Lektüre dieses 1783 uraufgeführten Dramas ist man immer wieder aufs Neue verblüfft! Wie zeitlos aktuell es ist! Mit welcher Klugheit und Klarheit, Weitsicht und Wärme es einen Konflikt untersucht, der auch zwei Jahrhunderte danach nichts an Brisanz verloren hat. Im Gegenteil: „Nathan der Weise“ liest sich, als hätte sein Autor die Katastrophen der jüngeren Vergangenheit und der brennenden Gegenwart in fiebrigen Albträumen vorweggenommen. Völkermord an den Juden, Gotteskriege im Nahen Osten, Terror in den Städten, Pogrome in der Provinz: all diese Schrecken lässt Lessing in seinem perfekt komponierten Fünfakter erahnen. Und er antwortet darauf mit einer Vernunft, die sich gar nicht anders äußern kann als in reiner Menschlichkeit: Die „Ringparabel“, das Kernstück des Dramas, lehrt uns mit ihrer unerbittlichen Logik noch immer Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen. Ja und noch mal ja.

 

Aus der Schule ist Lessings Klassiker nie verschwunden, aber jetzt taucht er auch wieder vermehrt im Theater auf. Stuttgart macht da keine Ausnahme. Vor einem Jahr hat sich der Schauspiel-Intendant Armin Petras des „Nathans“ beim internationalen Theaterfestival in Sibiu angenommen, wo er das Stück mit rumänischen und deutschen Darstellern inszenierte. Dieses gemischte Ensemble hat nun auch die englisch, deutsch und rumänisch übertitelte Premiere im Schauspielhaus bestritten und wird noch die folgende Vorstellung am Sonntag spielen. Da dann aber die Rumänen umbesetzt werden, sind an allen weiteren Abenden wieder nur die Stuttgarter Spieler zu hören, zu sehen und vor allem: zu enträtseln. „Nichts als Kraut und Rüben“, meinte eine Dame, welche die fast dreistündige Premiere zur Pause verlassen hat – und diese Beschreibung trifft das von Petras entfesselte Assoziationsgewitter in der Tat ganz gut. Wobei: es gibt hier schon auch gutes Kraut und gute Rüben zu ernten, man muss sie in dem dramaturgischen Durcheinander nur finden.

Permanenter Kriegszustand

Klar ist, wo Lessings Jerusalem aus der Zeit der Kreuzzüge – „Nathan“ handelt im Jahr 1192 – sich heute befindet: in den Kriegen des Nahen Osten, die auch im Hotel, das Nathan bei Petras führt, unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Einschusslöcher, Glassplitter, umgestürzte Bistrostühle: der kriegerische Ausnahmezustand etabliert sich auf der Bühne von Dragos Buhagiar & Julian Marbach als Dauerzustand. Das ist auch daran zu erkennen ist, dass die Menschen in der derangierten Lobby ungerührt ihren Geld- und Glaubensgeschäften nachgehen, während auf der Leinwand im Hintergrund Militärmaschinen ihre Bomben auf die Stadt der Religionen fallen lassen.

Gelegentlich führt das zu ohrenbetäubenden Detonationen im Hotel. Staub- und Rauchschwaden wirbeln empor und lassen Nathan nur hustend und würgend die Lobby betreten. Der jüdische Kaufmann war auf einer Dienstreise in Babylon. Und als er jetzt, so beginnt Lessings Drama, von seiner christlichen Haushälterin Daja (Katharina Knap) erfährt, dass seine geliebte Adoptivtocher Recha (Ofelia Popii) in den Flammen fast umgekommen wäre, würgt es ihn prompt ein zweites Mal. Nathan ringt um Luft, als wäre er im Gas – und so beginnt die Inszenierung, die dieses Massenmordmotiv immer wieder aufnimmt, fallen lässt, aufnimmt.

Obwohl er seine sieben Söhne in den Brandschatzungen der Kreuzzügler bereits verloren hat, wartet auf Nathan also ein weiteres Auschwitz: das ist die zentrale Lesart, die Petras dem Drama abringt. Und sie erhält noch mehr Stringenz, wenn nach einem finalen Bombeneinschlag seine Jerusalemer Nobelherberge in Schutt und Asche liegt und die Bühnenszenerie abrupt wechselt. Nach der Pause stehen die Lobbyisten in Smoking und Abendkleid auf einer nun kahlen Bühne, die das Entree zum Kit-Kat-Club im Berlin der dreißiger Jahre sein könnte. Geleitet wird das Etablissement vom dämonischen Derwisch-Joker des Paul Grill. Man sieht keine Nazis, aber man ahnt sie. Und wie vordem in Jerusalem tanzt sich die Gesellschaft, noch ein wiederkehrendes Motiv, in Trance, um den Wahnsinn zu vergessen.

Aufklärer mit heiligem Zorn

Einer tanzt nicht mit: Peter Kurth. Seinen Nathan gibt er nicht als sanften Menschenversteher, sondern als Aufklärer mit heiligem Zorn. Wenn er brüllt und wütet, bleiben seine Worte oft knödelnd in der Kehle hängen, so dass man ihn nicht immer versteht. Dafür sieht man ihn. Schweigend, lauschend, rauchend entfaltet er die größte Präsenz, wenn hinter seinem Rücken das neue Auschwitz organisiert wird. Abermals wird Nathan ein Kind verlieren: Seine Tochter Recha heiratet den Tempelherrn (Ciprian Scurtea), den fanatischen Gotteskrieger mit dem Eisernen Kreuz des Christentums. Ausgerechnet!

Man muss die Motive der Kraut-und-Rüben-Inszenierung freilich unter dem dichten Geflecht der wuchernden Assoziationen erst mal aufspüren. Abermals folgt Petras dem irrigen Motto „Viel hilft viel“ und zitiert sich wild durch die Popgeschichte. Und weil er seine Verweise zu häufig nach Lust und Laune, zu selten nach Sinn und Verstand vornimmt, verschenkt er die starken Momente der Inszenierung an schwache oder gar peinliche Nummern. Schade. Seine tiefpessimistische Deutung des ironisch-optimistischen „Nathan“ ist bei allen Abschweifungen interessant genug, um in der Schule interpretiert zu werden. Ist sie aber auch sehenswert genug? Nur bedingt.