Abgefahrenes Erlebnis: Im Fantasymärchen „Poor Things“, das das Filmfest in Venedig gewonnen hatte, spielt Oscarkandidatin Emma Stone eine Frau, die nach ihrem Tod wieder zum Leben erweckt wird – mit dem implantierten Hirn ihres ungeborenen Babys.

Es ist ein überaus seltsames Paar, das zu Beginn von Yorgos Lanthimos’ neuem Film „Poor Things“ am Frühstückstisch sitzt. An dem einen Ende der Tafel Willem Dafoe, dessen Gesicht von den Maskenbildnerinnen mit Narben verunstaltet wurde und aussieht, als wäre es aus alten Lappen zusammengenäht worden. Ihm gegenüber kauert Emma Stone auf dem Stuhl, stochert in ihrem Essen herum, steckt etwas davon in den Mund und spuckt es aus.

 

Ihre Bella ist ein Kind in einem Erwachsenenkörper und das neueste Forschungsprojekt des Chirurgen Dr. Godwin Baxter. Weitere Kreationen des experimentellen Mediziners laufen im Garten herum. Ein Hundekörper mit einem Entenkopf, ein Mops mit Hühnergefieder und diverse andere Kreuzungen gehören zum Haustierbestand. Auch das zerschnittene Gesicht des Hausherren ist das Ergebnis chirurgischer Eingriffe, die dessen Vater im Dienste der Wissenschaft an dem Sohn ausprobiert hat.

Die hochschwangere Bella wiederum war schon tot, als Baxter sie nach ihrem Selbstmord aus der Themse zog und das für ihn Naheliegende tat: Er implantierte das Hirn des ungeborenen Babys in den Schädel der jungen Frau und erweckte sie mit einer elektrischen Apparatur zu neuem Leben. „Körper und Geist sind noch nicht ganz synchronisiert“, erzählt er dem gutmütigen Medizinstudenten Max (Ramy Youssef), der als Assistent angeheuert wurde und sich mehr als fasziniert von der „schönen Zurückgebliebenen“ zeigt. Aber Bella lernt sehr schnell und nimmt mit kindlicher Neugier die Welt in sich auf.

Am Anfang war sie für Baxter, den sie liebevoll „God“ nennt, bloßes Experiment, aber mittlerweile hat der Chirurg väterliche Gefühle für seine Schöpfung entwickelt. Mit den täglichen Lernprozessen wächst jedoch auch der Freiheitsdrang der Probandin. Nach ihrem sexuellem Erwachen wird das abgeschirmte Leben auf Baxters Anwesen bald zu eng für die abenteuerlustige Kindfrau. Kurzerhand brennt sie mit dem unlauteren Rechtsanwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) nach Lissabon durch. Mit großen Augen, geradliniger Offenheit und dem Willen zur Erkenntnis tritt Bella hinaus in die Welt, von deren seltsamer Widersprüchlichkeit sie nichts ahnte.

Was als groteske Frankenstein-Variation beginnt, wird zu einer „Éducation sentimentale“ der ganz besonderen Art. Denn diese Bella saugt Erfahrungen wie ein Staubsauger in sich auf und zieht daraus dank streng wissenschaftlicher Erziehung, klarem Verstand und reinem Herzen ihre eigenen logischen Schlussfolgerungen, die nur wenig mit der normativen Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts zu tun haben. Die Konzepte von Anstand und Eifersucht, mit denen sie der zunehmend besitzergreifende Duncan konfrontiert, sind der sexuell befreiten Frau fremd. Literatur und philosophische Schriften liest sie an Deck des Kreuzfahrtschiffes – angeregt durch die fidele Witwe Martha von Kurtzroc (Hanna Schygulla) – mit zunehmender Begeisterung. Die soziale Ungerechtigkeit der Welt, in die sie bei einem Stopp in Alexandria mit dem Blick in den Abgrund eines Slums hineingezogen wird, erschüttert sie hingegen zutiefst.

In einem Pariser Bordell erforscht sie die Wechselbeziehung zwischen Sex, Geld und patriarchaler Gewalt. Im Kern erzählt „Poor Things“ die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung auf maximal skurrile Weise. Der Weg führt hier von der unbeschriebenen seelischen Festplatte über eine scheinbar naive Wahrnehmung der Welt bis zum strahlenden Selbstbewusstsein einer Frau, die sich von den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht korrumpieren lässt.

Emma Stone ist grandios in dieser wunderbar schrägen und sehr körperlichen Rolle, in der sie den Entwicklungsprozess ihrer Figur mit einer ungeheuren schauspielerischen Bandbreite verkörpert. Nachdem sie gerade mit dem Golden Globe als beste Hauptdarstellerin im Bereich Komödie ausgezeichnet wurde, dürfte ihr auch der Oscar sicher sein. Ohnehin gilt „Poor Things“ bei den diesjährigen Academy Awards als wichtigster Favorit und kann wohl jetzt schon als das abgefahrenste Kinoerlebnis des neuen Jahres gefeiert werden.

Vor allem visuell ist dieser Film ein großes Abenteuer. Lanthimos entwirft ein retro-futuristisches Setting, das zunächst in klassischem Schwarz-Weiß eine Steampunk-Version des viktorianischen Londons skizziert, mit dem Umzug nach Lissabon samt schwebenden Straßenbahnen im farbenfrohem Surrealismus eines Salvador Dalís schwelgt und wenig später auf einem Luxusdampfer in expressiven, maritimen Licht- und Wolkengemälden badet. Aber „Poor Things“ überzeugt nicht nur durch seine visuellen Extravaganzen, sondern vor allem auch durch die ungewohnt warmherzige Haltung zu seinen exzentrischen Figuren.

Poor Things: GB/Irland/USA 2023. Regie: Yorgos Lanthimos. Mit Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo. 141 Minuten, ab 16