Für eine glamouröse First Lady ist Gerlinde Kretschmann viel zu bodenständig. Unterschätzen sollte sie aber dennoch keiner.

Stuttgart - Mit Glamour hat sie nichts am Hut. Einen Hut setzt sie wahrscheinlich nur zur Fasnacht auf. Gerlinde Kretschmann drängt nicht ins Rampenlicht. Sie ist die Frau von Winfried Kretschmann, der aller Voraussicht nach am 12. Mai als erster Grüner in Deutschland zum Ministerpräsidenten eines Landes gewählt wird. In einer Zeit, in der First Ladies wieder Konjunktur haben und häufig die Presse von sich aus zu einer "Homestory" einladen, lässt Gerlinde Kretschmann die meisten Journalisten schon mal gar nicht rein. Und zum Thema First Lady hat sie nur eins zu sagen: "Wissen Sie, ich bin einfach keine Dame." Sie ist Lehrerin für Grund- und Hauptschule mit den Fächern Geschichte und Politik. Die kleine dunkelhaarige Frau mit dem runden Gesicht, dem fröhlichen Lachen und den flinken Augen ist der Typ Mensch, der in den Medien nicht unbedingt große Aufmerksamkeit erregt. Sie freut sich "von Herzen", wenn im Frühling die Blumen sprießen. "Das tut mir richtig gut", bekennt sie aufrichtig und läuft Gefahr, für schlicht gehalten zu werden.

 

Die große Geste liegt ihr fern. Sie sitzt in der Wohnstube auf der Bank, die ihr Mann selbst geschreinert hat, die Hände im Schoß und erzählt - ruhig, freundlich, sachlich. Selten nimmt sie einen ihrer Sätze so wichtig, dass sie ihn durch das Heben der Hände unterstreicht. Jemand wie sie wird leicht unterschätzt. "Gerlinde Kretschmann wirkt hausmütterlich", sagt die Verkäuferin beim Bäcker in ihrem Dorf Laiz, einem Teilort von Sigmaringen. Die Frau des neuen Regierungschefs stellt ihr Selbstbewusstsein nicht zur Schau. Sie hat ihre Rolle gefunden. "Mein Mann ist gewählt worden. Ich bin Gerlinde Kretschmann."

Gerlinde Kretschmann kandidierte für die SPD

Gerlinde Kretschmann wuchs mit fünf Schwestern und zwei Brüdern in diesem 3000-Einwohner-Ort Laiz am Ausgang des Donautals auf. Geboren 1947, prägen die schmerzlichen Erfahrungen von Mutter und Großmutter die Kindheit. Der Großvater ist im Ersten Weltkrieg gefallen, zwei Brüder der Mutter im Zweiten. Die Großmutter hat das Lamm in Laiz bewirtschaftet, und seit bald 30 Jahren wohnt Gerlinde Kretschmann mit ihrer Familie in dem umgebauten Gasthaus. Mit ihrer Heimat ist sie fest verwurzelt. Das kommunalpolitische Engagement hat diese Liebe noch vertieft. Anders als ihr Mann ist Gerlinde Kretschmann keine Mitbegründerin der Grünen. Ihr erstes Kind, eine Tochter, wird 1976 geboren, es folgen die Söhne 1978 und 1980. "Ich war damals mit den Kindern zugange."

Politisch aktiv war sie dennoch, kandidierte für die SPD als junge Lehrerin in Neufra für den Kreistag. Als die Anfrage der Partei kam, hatte sie ohne Taktieren zugestimmt, so unkompliziert, dass der Genosse, der sie gefragt hatte, erst glaubte, sie mache einen Scherz. SPD-Mitglied war sie nicht. Gewählt wurde sie auch nicht. Als die Familie dann nach Laiz zog, hat sie gleich angefangen, aktiv bei den Grünen mitzuarbeiten. "Ich habe gesehen, das ist meine Partei. Das sind meine Themen." Die ablehnende Haltung zur Atomkraft und die Frauenpolitik haben sie überzeugt. Die Laizer Grünen tagten oft in Gerlinde Kretschmanns Wohnzimmer - der ehemaligen Gaststube - oder in der Küche. "Für mich war's geschickt, wenn die Leute hierhergekommen sind, wegen der Kinder", sagt die Pragmatikerin.

15 Jahre lang war sie aus vollem Herzen Stadträtin der Grünen in Sigmaringen, bis sie ihren Stuhl zugunsten eines Parteifreundes räumte, der im Fall ihrer erneuten Kandidatur keine Chance gehabt hätte. "Für mich war das total in Ordnung. Da war einer, dem war das sehr wichtig. Da muss man aufhören und sagen, jetzt bist du dran." Zwischendrin war sie fünf Jahre im Kreistag - als einzige Grüne. "Da kam ich mir vor wie ein Vollzeitpolitiker." Sie erinnert sich an die Zusammenarbeit mit der SPD so gerne wie Winfried Köpfer, der noch die SPD-Fraktion führt. "Gell Gerlinde, wir haben schon lange vorher Rot-Grün gemacht", sagte Köpfer, als er nach der Landtagswahl zum Gratulieren kam. Das hat sie gefreut.

Kretschmann ist eine emsige Person

Wenn die 63-Jährige heute aus Laiz in die Stadt Sigmaringen läuft, kommt sie an manchem Projekt vorbei, für das sie früher gekämpft hat. Sie, die sonst kaum eine Miene verzieht, verdreht die Augen, als sie vom Streit berichtet, ob der zwei Kilometer lange Abschnitt des internationalen Donauradwegs von Laiz nach Sigmaringen geteert werden sollte oder nicht. Jetzt ist er asphaltiert - wie sie es wollte - und er ist der wohl am stärksten frequentierte Weg zwischen der Kernstadt und dem Dorf.

Sie ist eine Person, die man als emsig beschreiben könnte. Während sie auf den Besuch wartet, schneidet Gerlinde Kretschmann die verblühten Osterglocken vor dem Haus ab. Selbst wenn sie mal vor dem Fernseher sitze, bleibe sie nicht untätig, sagt sie. Dann stricke sie. Allein in der Kirche hat die Katholikin drei Ehrenämter. Sie singt im Chor, und zwar schon länger als ihr Mann, betont sie schmunzelnd. Sie ist Lektorin und organisiert für das Katholische Bildungswerk Vorträge. Bis vor einem Jahr hat sie ihren Mann gelegentlich einspannen können für ein Referat über Religionen, Kirche und Staat. Auch die Tochter Irene, die in Schottland Lehrerin ist, musste auftreten. "Vor mir ist niemand sicher", scherzt sie. "Ich frage alle."

Mit der Akribie einer Lehrerin bereitet sie für den Albverein zwei Führungen im Jahr vor, läuft als Wanderführerin die Strecke vorher ab, wenn es sein muss, auch dreimal. Großen Wert legt die Enkelin eines Gastwirts auf eine regionale Beiz für die Rast. Wenn sie mal keine Veranstaltung auf die Beine stellt, besucht sie die der anderen. Die des hohenzollerischen Geschichtsvereins, beispielsweise, oder die im Staatsarchiv in Sigmaringen. "Es gibt keine Woche, wo ich nicht irgendwo hingehe." Ach ja, zweimal die Woche Fitness ist auch im Programm.

Reiten lernen oder studieren

Im Sommer wird sie pensioniert

Gerlinde Kretschmann hat sich die Neugier bewahrt. "Ich will nicht wissen, was der Nachbar tut oder lässt." Nein, ihr geht es um Anregungen. "Es gibt so viel Interessantes auf der Welt. Kriegt man davon einen Zipfel zu fassen, ist das wunderbar."

Im Sommer wird sie pensioniert. Eigentlich wollte sie sich dann ihren Traum erfüllen: "Ich wollte anfangen zu reiten", sagt sie verschmitzt. Auch habe sie gedacht, sie könnte noch mal studieren. Dafür würde sie auch saftige Gebühren bezahlen. Die fände sie für ein Seniorenstudium politisch angebracht. Kunst würde sie interessieren. Nebenher hat sie schon Funkkollegs absolviert. Nicht nur im Haus in Laiz, auch an der Außenwand des Schopfs, wie man im Oberschwäbischen zur Scheune sagt, hängen Kunstwerke. Die sind von dem Stuttgarter Michael Mordo, dessen Mutter Elsbeth mit Winfried Kretschmann unter den ersten Grünen im Landtag war.

Als Gerlinde Kretschmann von ihren Plänen für den Ruhestand erzählt, unterbricht sie sich selbst mit einem Lachen: "Jo, jetzt ist es anders gekommen." Jetzt wird ihr Mann Ministerpräsident. Bei der tiefen Verwurzelung in Laiz überrascht es, dass die First Lady in spe erwägt, in die Dienstvilla des Regierungschefs auf der Solitude zu ziehen. "Ich würde das für vernünftig halten, wegen meines Mannes. Es ist doch jeden Abend was anderes. So muss er halt immer zwei Stunden heimfahren." Einer Grünen widersteht die Pendelei, was der Verwurzelung aber keinen Abbruch tut. Die Freunde vom Kirchenchor plädieren sehr für die Solitude. "Die sagen, da ziehst du hin, da können wir dich besuchen." Bei aller Rührigkeit plant Gerlinde Kretschmann eines nicht: "Ich fühle mich nicht als Landesmutter. Ich bin die Mutter meiner Kinder. Das bin ich liebend gerne. Aber Landesmutter, das wäre zu viel."