Daniela Mettvett ist fast blind, aber dafür kann sie viel besser fühlen als die meisten Menschen. Als medizinisch-taktile Untersucherin erkennt sie Brustkrebs bei der Vorsorgeuntersuchung viel früher als ein Arzt.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Böblingen - Kästchen für Kästchen tastet Daniela Mettvett die Brust ab, Zentimeter für Zentimer. Mit mehr Fingerspitzengefühl als die meisten Menschen: Sie ist fast blind, aber dafür kann sie mit ihren Händen Tumore erkennen, die Ärzte bei der normalen Tastuntersuchung für die Brustkrebsfrüherkennung übersehen. Medizinisch-taktile Untersucherin (MTU) nennt sich die 42-Jährige, und sie ist bisher die erste und einzige in der Region Stuttgart. „Das ist nichts Esoterisches, das ist ein anerkannter Beruf“, betont sie. Seit Februar arbeitet Daniela Mettvett in einer Frauenarztpraxis in Schönaich (Kreis Böblingen) und in der Filderklinik. Es ist für sie persönlich auch ein Wendepunkt: „Ich habe aus einer Behinderung eine Fähigkeit gemacht.“

 

Philipp Wilhelm ist eigentlich ein klassischer Schulmediziner. „Ich mag evidenz-basierte Medizin“; sagt der Schönaicher Frauenarzt. Eine Studie aus Kanada hat ihn überzeugt: Danach entdecken Frauen bei einer Selbstabtastung Tumore erst bei einer Größe von 2,5 Zentimeter, Frauenärzte können im Schnitt Geschwülste frühestens mit einer Größe von zwei Zentimetern spüren. Sehbehinderte stoßen schon bei sechs Millimetern auf solche Gewebeveränderungen. „Wenn man so kleine Tumore findet, erspart man sich die Chemotherapie“; erklärt Philipp Wilhelm. Außerdem sei die Wahrscheinlichkeit, dass Metastasen in die Lymphknoten gewandert sind, viel geringer. „Ich bin von der Untersuchung überzeugt“, sagt Wilhelm.

Die Untersuchung dauert bis zu einer Stunde

Daniela Mettvett veranschaulicht mit einer Kette ihr Können: Die größte Kugel hat einen Durchmesser von 2,5 Zentimetern, die kleinste erscheint mit sechs Millimetern winzig dagegen. Mit fünf Klebestreifen teilt sie sich ihr Untersuchungsgebiet ein, bekommen die Patientinnen dann erklärt. Damit sie nicht die Orientierung verliert, sind die ein Zentimeter großen Kästchen darauf mit verschiedenen Farben und mit Punkten markiert. „Es ist wie beim Schiffleversenken“, erläutert sie das System. Wie ein Pianist, der eine Tonleiter spielt, tastet sie anschließend Reihe für Reihe in drei verschiedenen Tiefen bis zum Brustkorb ab. Auch die Lymphknoten am Hals und unter den Achseln untersucht sie. Bis zu einer Stunde kann es dauern, bis die medizinisch-taktile Untersucherin ihre Prozedur abgeschlossen hat.

Diabetes hat Daniela Mettvett das Sehvermögen genommen, die Globalisierung ihren Job, und beides kam fast gleichzeitig zusammen. Mehr als 20 Jahre lang hatte sie in einem Betrieb in Nufringen gearbeitet, bis der Standort 2015 überraschend geschlossen wurde. Zwei Jahre zuvor war ihr aufgefallen, dass ihre Augen immer schwächer wurden. Ein Dutzend Operationen ließ sie über sich ergehen, ein Auge ist quasi blind, das andere hat noch eine Leistungskraft von 20 Prozent. „Ich hatte Depressionen und Existenzängste“, erzählt sie, „das wünsche ich niemandem.“ Während ihrer Reha entdeckte sie auf einer Messe die Initiative Discovering Hands.

Neunmonatige Ausbildung zur MTU

Über ein Auswahlverfahren qualifizierte sich Daniela Mettvett für die neunmonatige Ausbildung zur MTU in Nürnberg. Erst an den Lehrerinnen und den anderen Schülerinnen wird das Abtasten geübt, auch in die Anatomie wurde sie geschickt und in ein Brustkrebszentrum. „Ich habe alles gespürt und gesehen“, sagt sie. Nach ihrem Examen arbeitete sie einige Monate als Praktikantin bei einer ausgelernten Untersucherin. Mittlerweile ist sie bei Discovering Hands angestellt.

Männern machen gerne Witze, dass ihr Job doch ein Traumberuf sei. „Lustig ist das Ganze nicht, jedoch sehr sinnvoll“, kontert sie dann. „Und ich fühle mich wieder gebraucht.“ Der Frauenarzt Philipp Wilhelm und die Filderklinik buchen sie tageweise bei ihrem Arbeitgeber. 46 Euro kostet die Leistung, die nur wenige Krankenkassen übernehmen.

Alternative zur für die meisten Frauen unangenehmen Mammografie

„Ich bin noch nie so intensiv und detailliert an der Stelle untersucht worden“, berichtet Ingrid Häfner. Die 53-Jährige aus Holzgerlingen hatte schon vor zwei Jahren vergeblich im Internet nach einer Alternative zur für die meisten Frauen unangenehmen Mammografie gesucht. „Es ist absolut brillant, dass man diesen besonderen Menschen mit diesen besonderen Fähigkeiten gefunden hat“, sagt sie über Daniela Mettvett. Als sehr genau, sehr gefühlvoll und absolut schmerzfrei beschreibt sie das Abtasten.

Mindestens alle zwei Jahre will sie diese natürliche Form der Vorsorge machen. „Sicher ist man nie, in der Brust kann immer etwas Schlummern“, sagt Ingrid Häfner, „aber wie ein Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken, geht auch nicht.“ Ihre Großmutter hatte Brustkrebs, und ihrer 20 Jahre alten Tochter hat sie die Untersuchung auch gleich empfohlen.

Eine besondere Gabe für die Früherkennung

Initiative:
Das gemeinnützige Unternehmen Discovering Hands ist von dem Frauenarzt Frank Hoffmann vor sieben Jahren gegründet worden. In Deutschland erkranken jährlich 70 000 Frauen an Brustkrebs. Seiner Meinung nach müssen die Früherkennungsangebote verbessert werden. Das Mammografie-Screening gibt es etwa erst für Frauen ab 50 Jahren, aber rund ein Fünftel der Neuerkrankungen betreffen jüngere Frauen.

Methode:
„Blinde und sehbehinderte Frauen verfügen über eine besondere Gabe“, heißt es bei Discoring Hands: einen überragenden Tastsinn. Durch ihre Ausbildung können sie bereits sehr kleine Veränderungen im Brustgewebe frühzeitig entdecken. Im Ruhrgebiet, wo Frank Hoffmann seine Praxis betreibt, sind bereits zahlreiche medizinisch-taktile Untersucherinnen tätig, auch in Berlin gibt es ein Zentrum. Unter www.discovering-hands.de sind die Praxen und Kliniken aufgeführt.