Ein gemeingefährlicher 24-Jähriger kommt gewaltsam ums Leben – und eine halbe Stadt steht Kopf, weil sie um den „guten Jungen“ trauert. Das ist nicht die einzige verdrehte Wahrheit in Pete Dexters fulminantem Roman „God’s Pocket“.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Kleine Lügen, große Lügen, kleine Verbrechen, große Verbrechen, kleine Arschlöcher, große Arschlöcher – in „God’s Pocket“ von Pete Dexter ist für jeden etwas dabei. Sein Philadelphia der frühen 80er Jahre ist eine Stadt der Abgründe, in der jeder nur an sich denkt – Arbeiter, Mafiosi, Cops, Journalisten.

 

Dexter erzählt die Geschichte des 24-jährigen Leon Hubbard, den der Klappentext so knapp wie treffend als Ratte einführt. In der Tat: der Bursche ist ein explosives Virus auf zwei Beinen, das bei jeder Gelegenheit mit dem Rasiermesser herumfuchtelt und erfolgreich seine Umgebung einschüchtert. Nur einmal kommt er damit an den Falschen und fortan bestimmen der tote Leon – beziehungsweise seine sterblichen Überreste – die Handlung.

Großes Interesse an der trauernden Mutter

Denn ob es ein Totschlag – oder sogar ein Mord – war, interessiert die Polizei wenig. Sie glaubt Leons Arbeitskollegen, die von einem Unfall berichten. Nur Leons attraktive Mutter spürt, dass am Tod ihres Früchtchens was faul ist und Richard Shellburn, versoffener, ausgebrannter, alternder Starkolumnist der örtlichen Zeitung, macht sich auf, ihr zur Seite zu stehen – wobei sein Interesse bald das beruflich notwendige Maß bei weitem überschreitet.

„God’s Pocket“ ist die Geschichte von Menschen, die sich und anderen etwas vormachen, die weitgehend frei von Skrupeln ihren Weg entlang stapfen. Und wenn sie dann einmal, ein einziges Mal die Wahrheit sagen (oder das, was sie dafür halten), dann enden sie wie die abgehalfterte Edelfeder Shellburn unter Baseballschlägern und Eisenstangen. Missverständnisse können tödlich enden in Gottes Täschchen.

Abrechnung mit dem Neuen Journalismus

Pete Dexter, Jahrgang 1943, ehemaliger Zeitungsreporter und unter anderem Autor von „Deadwood“ und dem jüngst neu aufgelegten „Paperboy“, schildert das Leben und Sterben in Philadelphia in der gebotenen Drastik. Auch vor der Groteske schreckt er nicht zurück. Und er rupft ein Hühnchen mit dem sogenannten Neuen Journalismus, der rund um Richard Shellburn um sich greift. So weigert sich der alte Saurier beharrlich, von der Schreibmaschine aufs damals ganz neue Computersystem umzusteigen. Der Streit mit einem technokratischen Redaktionshierarchen endet schließlich vor dem Eigentümer des Blattes: „,Wenn Richard Shellburn mit Pisse in den Schnee schreiben will‘, hatte der alte Mann zu dem leitenden Redakteur gesagt, ,dann sorgen Sie dafür, dass er genügend Schnee hat.‘“

Pete Dexter: „God’s Pocket“. Liebeskind Verlag. München. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt. 368 Seiten, 22 Euro. Auch als Taschenbuch bei Fischer, 9,99 Euro.