George Clooney der CDU, Merkels Kronprinz und Muttis Klügsten haben sie ihn genannt: Seit einem Jahr ist Norbert Röttgen als Minister a.D. auf dem Abstellgleis. Manche aber in der CDU glauben, dass mit ihm noch zu rechnen ist.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Wer Norbert Röttgen in seinem Bundestagsbüro besucht, muss sich auf weite Wege gefasst machen. Treppensteigen. Lange Flure. Verwinkelte Gänge. Ein bisschen beschleicht einen das Gefühl, einen Mann zu treffen, der in der Verbannung ausharren muss. Röttgens Schreibtisch steht in maximaler Entfernung zu den Zentren der Macht: dem Kanzleramt und dem Reichstagsgebäude – im hintersten Flügel des Jakob-Kaiser-Hauses, wo die Abgeordneten ihre Arbeitsplätze haben. Ganz oben unterm Dach.

 

Das in der politischen Geografie der Hauptstadt ziemlich abgelegene Domizil hatte der 47-jährige CDU-Mann allerdings schon bezogen, als er noch Minister war. Seit nunmehr einem Jahr ist er es nicht mehr. Sein Büro, obwohl am äußeren Rand des parlamentarischen Geschehens, ist ihm als letztes Privileg geblieben: Es gibt dort üppig Platz und eine passable Aussicht – mehr als einem gewöhnlichen Abgeordneten vergönnt ist. Der zwangspensionierte Minister zählt wieder zum parlamentarischen Fußvolk. Nicht einmal ein ordentliches Portefeuille billigte ihm seine Fraktion zu, nachdem ihn der Bannstrahl der Kanzlerin getroffen hatte. Röttgen ist nun stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Stimmrecht hat er nur, wenn ein Kollege fehlt.

Auf dem Schreibtisch steht ein Traktor

Röttgens Schreibtisch ist inzwischen so etwas wie ein Parkplatz. Auf der Arbeitsplatte in Buchenholzdekor ist ein Traktor abgestellt. Kein echter, natürlich, sondern ein Spielzeugexemplar. Das Gefährt erzählt von Röttgens heimlichen Ambitionen und ein bisschen auch von seinem aktuellen Schicksal. Treckerfahren sei für ihn die schönste Fortbewegungsart, sagt er – weil man auf diese Weise langsam, aber stetig und unaufhaltsam vorankomme. Vor einigen Jahren habe er sich überlegt, einen richtigen Traktor zu kaufen. Dabei war Agrarpolitik nie sein Metier. Man kann sich den smarten Intellektuellen schon gar nicht als Bauern vorstellen. Ihm fehlt alles Grobschlächtige. Röttgen besitzt auch kein Ackerland, nur einen großen Garten. Seine Frau hat ihn deshalb wegen der Traktor-Träume verspottet: Er komme ihr vor wie ein Gutsbesitzer ohne Land. Damit ist auch der Politiker Norbert Röttgen trefflich charakterisiert: ein Mann mit klugen Ideen, immensem Ehrgeiz und einem Überschuss an Gestaltungsdrang. Auf absehbare Zeit wird er all dies nicht ausleben können. Er bleibt auf Gedankenspiele angewiesen.

„George Clooney der CDU“ hatten sie ihn genannt, Merkels Kronprinz und „Muttis Klügsten“. Mitte Mai 2012 war Schluss damit. Röttgens Karriere fand ein abruptes Ende. Mit ihm an der Spitze erlitt die CDU ein Fiasko bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Es war das mit Abstand miserabelste Ergebnis, das die Christdemokraten jemals in dem bevölkerungsreichsten der 16 Bundesländer zu verkraften hatten. Das Debakel wurde allein auf Röttgens Konto verbucht. Im Wahlkampf verfing sein intellektueller Charme nicht. Er leistete sich Patzer und Provokationen, verprellte auch viele der eigenen Leute.

Die kältesten Momente in Merkels Amtszeit

Doch der alerte Umweltminister räumte seinen Platz am Kabinettstisch nicht freiwillig. Zwar verzichtete er prompt auf seine Parteiämter, kaum dass die Wahllokale geschlossen hatten, doch den Rang als Minister wollte er behalten. Die Kanzlerin zögerte zunächst, ihrem einstigen Musterschüler den Stuhl vor die Tür zu stellen. Am Morgen nach der Wahlkatastrophe faselte sie sogar noch von „Kontinuität in der Aufgabenerfüllung“. Zwei Tage später aber war Röttgen seinen Job los. An ihm hat Merkel vorexerziert, dass sie auch hart sein kann – Angela Macchiavella. 99 Sekunden genügten ihr, Röttgens Rausschmiss zu verkünden. Das waren die kältesten Momente in Merkels Amtszeit. Kein Wort von Dank oder Bedauern.

Dabei ging es nicht um eine x-beliebige Personalie. Bundespräsident Joachim Gauck sprach zwar von der „republikanischen Normalität des Wechsels“, als er Norbert Röttgen die Entlassungsurkunde überreichte. In der CDU gab es manche, die den erzwungenen Abgang mit klammheimlicher Genugtuung verfolgten. Denn Röttgen hat ein Talent, Freunde zu vergrätzen und Feinde gegen sich aufzubringen – stets zu ehrgeizig, um loyal zu bleiben. Doch er war eben nicht irgendwer in der Union. Er war einer ihrer Hoffnungsträger: klug, unideologisch, begabt zu pfeilschnellen und treffsicheren Analysen – einer der wenigen, die Merkel eines Tages hätten nachfolgen können.

Jetzt setzt sich Röttgen für S-Bahn-Ausbau ein

Der Rheinländer hat die Degradierung zum parlamentarischen Fußvolk nicht verwunden. Er versucht sich (und allen, die danach fragen) das Scheitern schönzureden. Zur „Paradoxie solcher Ereignisse“ zählt Röttgen, dass er enormen Zuspruch erhalten habe, und dies zum Teil von unerwarteter Seite: von Professoren und Bischöfen, von SPD-Mitgliedern und Grünen-Wählern. „Ich bin keiner, der herumhadert“, betont er. Den Statussymbolen und dem Ansehen eines Regierungsmitglieds trauere er nicht hinterher. „Die meiste Zeit meines Lebens war ich ja nicht Minister“, sagt Röttgen und versichert, „null Komma null Probleme“ damit zu haben, jetzt wieder ganz hinten in der Reihe derer zu stehen, die in der Politik etwas werden wollen.

Die erste Hürde auf diesem Weg ist am 22. September zu überwinden. Röttgen kandidiert im Wahlkreis 99, wo er vor vier Jahren die absolute Zahl der Erststimmen auf sich vereinen konnte. Nun lastet ihm die Hypothek eines formidablen Karriereknicks an. Wer wissen will, auf welche Dimensionen Röttgens politischer Aktionsradius geschrumpft ist, kann das im Internet auf seiner Homepage besichtigen. „Röttgen setzt sich für zügigen Ausbau der S 13 ein“, lautet dort die Topmeldung dieser Tage. Die S 13 verläuft von Troisdorf nach Oberkassel – tief in der Provinz der alten Bundesrepublik.

Natürlich endet Röttgens Weltbild nicht an den Grenzen des Rhein-Sieg-Kreises. Im Auswärtigen Ausschuss beschäftigt er sich mit „Rechtsstaatlichkeitsdialogen“, der Diskriminierung von Mädchen in Pakistan und der sicherheitspolitischen Lage auf der Arabischen Halbinsel. Als Senior Fellow der Hertie School of Governance doziert er über die Frage, wie die Europäische Union zu demokratisieren sei. Und in juristischen Fachzeitschriften denkt er in langen Aufsätzen über „Nachhaltigkeit bei Vorstandsvergütungen“ nach. Wer Röttgen gestikulieren sieht, wenn er über aktuelle politische Fragen spricht, begreift gleich, dass dieser Mann sich nicht zum Hinterbänkler verzwergen lassen wird. Seine Hände greifen aus, als müsse er den Globus höchstpersönlich weiterdrehen, um die Weltgeschichte in Gang zu halten.

Sein Buch liegt wie Blei in den Regalen

Es gibt wenige, die die Verhältnisse in der CDU, deren Schwächen und die ihrer mächtigen Chefin so messerscharf zu sezieren wissen. So redet einer, der zur Führungsreserve gerechnet werden muss, auch wenn er aktuell einer Art Ächtung unterliegt. Merkel ist in seiner Welt nicht mehr das Zentralgestirn. Röttgen redet über die Merkel-Zeit wie einst über die letzten Jahre des Kanzlers Kohl. Schon damals hatte er über die bleiernen Verhältnisse hinaus gedacht. Röttgen zählte zu den Jungen Wilden in der CDU, war Mitglied der sogenannten Pizza-Connection, die erste Drähte zu den Grünen spannte.

„Deutschlands beste Jahre kommen noch“ heißt ein Buch, das Norbert Röttgen vor der letzten Wahl veröffentlicht hat. Er scheint darauf zu vertrauen, dass dies für ihn auch jetzt noch ganz persönlich gilt. Das Buch steht bei Amazon in der Bestsellerliste gerade auf Platz 653 857. „Der muss erst noch ein bisschen überwintern“, urteilt ein Kollege aus der Fraktion über den Minister a. D. Abgeschrieben haben sie ihn aber noch nicht. „Wir haben ja nicht viele von dem Kaliber“, so meint ein anderer CDU-Stratege. „Wenn wir die Wahl verlieren und Merkel weg wäre, würde man an ihn denken müssen.“