Nordkoreas Machthaber hat seine Politik zur friedlichen Wiedervereinigung aufgegeben. Experten zufolge ist die Gefahr eines militärischen Konflikts so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Wer Kim Jong-uns Drohgebärden über die Jahre verfolgt, fühlt sich unweigerlich an einen sprichwörtlichen Hund erinnert, der zwar oft bellt, aber schlussendlich doch nicht beißt. Doch was Nordkoreas Machthaber dieser Tage von sich gibt, geht über sein gewohntes Säbelrasseln hinaus.

 

Laut der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA hat der 40-Jährige die friedliche Vereinigungspolitik seines Großvaters – Staatsgründer Kim Il-sung – über Bord geworfen. Südkorea solle nun per Verfassung als „Feindstaat Nummer eins“ bezeichnet und im Ernstfall „vollständig besetzt“ werden. Auch sämtliche Behörden für den innerkoreanischen Dialog ließ der Diktator schließen. „Wir wollen keinen Krieg, doch haben wir auch nicht die Absicht, ihn zu vermeiden“, sagte Kim. Noch 2017 dominierte die nordkoreanische Armee mit ihren wiederholten Raketentests die Schlagzeilen internationaler Medien. Zuletzt jedoch ist der Konflikt auf der Koreanischen Halbinsel international ins Hintertreffen geraten wegen anderer Kriege und Konflikte. Dementsprechend wurden Kims Waffentests oft nur mehr als geopolitisches Hintergrundrauschen wahrgenommen. Selbst als Pjöngjang Anfang Januar Hunderte von Artilleriegranaten nahe der innerkoreanischen Seegrenze abschoss, ging es in der westlichen Wahrnehmung weitgehend unter.

In Washington wurde die Aufrichtigkeit Pjöngjangs stets angezweifelt

Doch nun löst eine Analyse von zwei der führenden Nordkorea-Experten Schockwellen in US-Denkfabriken aus. „Die Lage auf der Koreanischen Halbinsel ist so gefährlich wie seit Anfang Juni 1950 nicht mehr“, schreiben Siegfried Hecker und Robert Carlin im Fachmedium „38 North“: „Das mag übertrieben dramatisch klingen, aber wir glauben, dass Kim Jong-un wie sein Großvater im Jahr 1950 eine strategische Entscheidung getroffen hat, in den Krieg zu ziehen.“ Damals führte der Koreakrieg (1950 bis 1953) zu mehreren Millionen Toten.

Seit Beginn der 1990er Jahre hat die nordkoreanische Parteiführung ihre Außenpolitik vor allem darauf ausgelegt, die Beziehungen zu den USA zu verbessern – mit dem Ziel, sie langfristig zu normalisieren. In Washington wurde die Aufrichtigkeit Pjöngjangs zwar stets angezweifelt, doch es lässt sich wohl kaum abstreiten, dass das hochparanoide Nordkorea teils erstaunliche Zugeständnisse lieferte: So konnten im Jahr 2008 US-Forscher die Nuklearanlage Yongbyon höchstpersönlich inspizieren, darunter auch besagter Analyst Siegfried Hecker. Doch spätestens 2019, als das zweite Gipfeltreffen zwischen Kim Jong-un und Donald Trump in Hanoi spektakulär scheiterte, hat die nordkoreanische Staatsführung ihre Annäherung gegenüber den USA vollständig aufgegeben.

Seither wendet sich Pjöngjang wieder verstärkt seinen Nachbarn China und insbesondere Russland zu. Vor allem die Annäherung an Moskau gilt für Europa als eine gefährliche Entwicklung, da Nordkoreas Munitionsarsenale mittlerweile Putins Armee in der Ukraine stärken. Rund eine Million Artilleriegeschosse soll Pjöngjang geliefert haben.

„Vorbereitung für einen revolutionären Krieg“

Auch im Rahmen der nordkoreanischen Propaganda ließ sich ab Beginn des Jahres 2023 eine alarmierende Eskalation vernehmen. Immer wieder tauchten in Dokumenten hochrangiger Regimemitglieder Anspielungen auf die Vorbereitung eines Krieges auf – in mindestens einem Fall rief darin Kim Jong-un höchstpersönlich zur „Vorbereitung für einen revolutionären Krieg zur Vollendung der Wiedervereinigung“ auf.

Doch könnte Kim seinen martialischen Worten wirklich Taten folgen lassen? „Das mag wie Wahnsinn erscheinen, aber die Geschichte zeigt, dass diejenigen, die sich selbst davon überzeugt haben, dass sie keine guten Optionen mehr haben, die Ansicht vertreten, dass selbst das gefährlichste Wagnis einen Versuch wert ist“, argumentieren Hecker und Carlin.

Vollkommen abwegig war dieses Szenario nie. Tatsächlich haben einige Nordkorea-Experten immer wieder darauf hingewiesen, dass das Kim-Regime weiterhin darauf hinarbeitet, das demokratisch regierte Seoul militärisch einzunehmen.