Der Ende August vorgelegte NSU-Abschlussbericht lässt Polizei und Justiz im Südwesten schlecht aussehen. Indes heißt es beim Innenministerium, dass Baden-Württemberg bei der Kritik nicht im Fokus stehe.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Stuttgart - Genau 1357 Seiten hat der Abschlussbericht des Ende August vorgelegten NSU-Untersuchungsausschusses. 25 Seiten dieses Protokolls widmen sich dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 in Heilbronn. „Der Ausschuss hat aus der Beweisaufnahme den Eindruck gewonnen, dass in diesem Fall viele Fragen nicht abschließend geklärt sind“, schicken die Parlamentarier dem Kapitel vorweg. Die Bildung der Ermittlungsgruppe „Umfeld“ in diesem Jahr durch die Landesregierung Baden-Württemberg unterstreiche, „dass dies nicht nur der Ausschuss so sieht“.

 

Die Ausschussmitglieder, so ist zu lesen, haben viele harte Fragen gestellt und manche weiche Antwort erhalten. So wird beschrieben, wie die „unbekannte weibliche Person“, deren DNA nach der Bluttat am Polizeiwagen gesichert wurde, mit Nachdruck unter 15 Angehörigen „reisender Familien“, also unter Sinti und Roma, gesucht wurde. Das Amtsgericht Heilbronn hatte mit Beschluss vom 30. April 2008 die „Ausschreibung zur Beobachtung anlässlich von polizeilichen Kontrollen“ angeordnet. Als sich Anfang 2009 herausstellte, dass die „Phantom“-Spur ein Irrweg ist, kam die Heilbronner Gerichtsbarkeit gleichwohl auf die Sinti und Roma zurück. Am 19. Mai 2009 erneuerte das Amtsgericht Heilbronn den Fahndungsbeschluss gegen dieselbe Personengruppe. Begründet wurde das mit der Aussage einer Zeugin, sie habe gehört, wie ein unbekannter Landfahrer gesagt habe: „Es waren Zigeuner.“

Zank zwischen Polizei und Staatsanwalt

Im NSU-Ausschuss wollte man von dem damals mit dem Ermittlungsverfahren beauftragten Ersten Staatsanwalt Christoph Meyer-Manoras wissen, ob es später eine Entschuldigung in Richtung der Betroffenen gegeben habe. Antwort: „Ich bedaure es immer, wenn Menschen von Ermittlungen beeinträchtigt werden, und Sinti und Roma werden stärker beeinträchtigt als andere. Entschuldigen im klassischen Sinne kann ich mich leider nicht dafür.“

Der Ausschussbericht dokumentiert auch eine Auseinandersetzung zwischen dem Staatsanwalt und der Polizei über die Wertung von Zeugenaussagen und dem Umgang mit Spuren in Tatortnähe. Mehrere Zeugen hatten ausgesagt, in der Nähe der Heilbronner Festwiese blutverschmierte Personen gesehen zu haben. 14 Phantombilder waren angefertigt worden, die Sonderkommission „Parkplatz“ schlug der Staatsanwaltschaft damals die Veröffentlichung von drei Bildern vor. Doch Meyer-Manoras lehnte ab, und zwar, wie der Untersuchungsausschuss kritisiert, ohne schriftliche Begründung. Als Zeuge sagte der Staatsanwalt in Berlin, bei einer früheren schriftlichen Ablehnung einer Fahndungsmaßnahme sei es zu „Reibungen“ mit der Polizei gekommen. Er habe die „Beschreibungen unkontrollierter Fluchtversuche nicht als tatrelevant eingestuft“. Mit derselben Begründung wurden auch fünf blutige Taschentücher, die zwei Tage nach der Tat in der Nähe des Festplatzes gefunden wurden, erst im Mai 2009 molekular-genetisch untersucht (es zeigte sich ein männliches und ein weibliches Profil). Als unwichtig wurde lange auch die Auswertung von Videoaufzeichnungen mehrerer Überwachungskameras in Tatortnähe qualifiziert. Bis 2010 ließen sich die baden-württembergischen Ermittler damit Zeit.

In Baden-Württemberg wird geprüft

Nicht tatrelevant, diese Formulierung wiederholt sich fortwährend, auch bei der Beschreibung der Ringalarmfahndung kurz nach den tödlichen Schüssen auf die Polizisten. Noch am 25. April 2007 fuhr das angemietete Wohnmobil der NSU-Terroristen Böhnhardt und Mundlos durch die Kontrollstelle Oberstenfeld (Kreis Ludwigsburg), das Chemnitzer Kennzeichen wurde als eines von 34 000 registriert. Hätten Ermittler nachgeforscht, wären sie beim Verleiher auf den Namen des im Münchner NSU-Prozess angeklagten Holger G. gestoßen, der im Mietvertrag eine nicht auf ihn ausgegebene Handynummer genannt hatte. Die Nummer gehörte zu einem Handy, das 2011 in der explodierten Zwickauer Wohnung von Beate Zschäpe sichergestellt wurde.

Der frühere Soko-Leiter Axel Mögelin sagte im NSU-Ausschuss als Zeuge, Massendaten wie in diesem Fall würden immer erst einzeln ausgewertet werden, wenn sich begründete Verdachtsmomente ergäben; alles andere sei „unverhältnismäßig“. Ein Schausteller in Heilbronn habe aber doch als Zeuge ausgesagt, er habe am Festplatz einen Tag vor der Bluttat ein Wohnmobil parken gesehen, hielten die Ausschussmitglieder entgegen; das hätte doch ein Rasterkriterium sein können. Der Hinweis sei als nicht relevant eingestuft worden, so Mögelin.

Warten auf Stellungnahmen

So geht es im Bericht weiter, auch was die unterbliebene Auswertung des Yahoo-Accounts von Michèle Kiesewetter oder die zeitweise Zugehörigkeit ihres Böblinger Gruppenführers zum Ku-Klux-Klan anbelangt. Für das Innenministerium hat der Abschlussbericht dennoch einen „wertvollen politischen Beitrag“ zur Aufarbeitung der Mordserie geleistet. Es handle sich um ein „wichtiges politisches Signal für unsere Gesellschaft“, so ein Sprecher des Ministers Reinhold Gall (SPD).

Auch ein Signal für die Polizeiarbeit? „Baden-Württemberg steht bei der Kritik nicht im Fokus“, heißt es dazu. Gleichwohl werde die Polizei „Regelungen und Verfahrensprozesse durchleuchten und mit Blick auf den konkreten Verbesserungsbedarf auf den Prüfstand stellen“. Ähnlich äußert sich die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart. Eine Sprecherin des im Juli neu eingesetzten Chefanklägers Achim Brauneisen sagte, die Behörde prüfe, „ob aus den Ausführungen des Ausschusses ein Handlungsbedarf für den eigenen Zuständigkeitsbereich abzuleiten ist“. Die Staatsanwaltschaft Heilbronn sei anlässlich der Anfrage der Stuttgarter Zeitung um eine Stellungnahme gebeten worden.