In Nürtingen wird Kulturbürgermeisterin Claudia Grau vielleicht zur neuen Stadtchefin gewählt. Dabei steht sie überhaupt nicht auf der Liste.  

Nürtingen - Was die Kommunalpolitiker nicht schafften, haben einige Bürger der Stadt Nürtingen nun selbst in die Hand genommen. Sie suchten auf eigene Faust einen Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl - und sind dabei fündig geworden. Claudia Grau ist die Auserwählte, die Otmar Heirich bei der Neuwahl am Sonntag vom Chefsessel im Rathaus stoßen soll.

 

Das Kuriose: die 47-Jährige, die erst im Februar zur Kulturbürgermeisterin und OB-Stellvertreterin gewählt wurde, bewirbt sich gar nicht. Eine Initiative, die seit zwei Wochen via Internet die Werbetrommel für sie rührt, stört das aber gar nicht. Geht es nach dem Willen der Rebellen, werden die Wähler ihren Namen trotzdem zu Tausenden auf die amtlichen Stimmzettel schreiben - ob es Grau gefällt oder nicht. Damit wäre sie offiziell gewählt und müsste die Wahl nur noch annehmen.

Was als Schneeball angefangen hat, soll zu einer Lawine werden, die den amtierenden Verwaltungschef hinwegfegt. E-Mails, die zur Wahl Graus auffordern, werden zurzeit über das Internet verteilt und landen in den Postfächern der Nutzer. In sozialen Netzwerken wie Google+, Facebook und Twitter sind die Foren angesiedelt, in denen die Aufständischen Ideen austauschen und Strategien festlegen. Sollten sie erfolgreich sein, hätten sie mit Hilfe der modernen Medien die üblichen Regeln einer Oberbürgermeisterwahl außer Kraft gesetzt - ein wohl einmaliger Vorgang in der Republik.

"Das ist zu schaffen"

Es sind nicht die Parteien, die hinter der Kampagne stehen. "Ich bin nur ein Durchschnittsbürger", sagt der 47-jährige Nürtinger Raimund Popp, freischaffender Programmierer und Erfinder von Beruf - und treibende Kraft der Initiative. "4900 plus" ist die Devise, die er ausgibt. So viele Stimmen hat Heirich im ersten Wahlgang am 9.Oktober bekommen.

"Das müsste doch zu schaffen sein. Nein, das ist zu schaffen", postete Popp am 13. Oktober auf Google+. Seine Mitstreiter im Forum sind hochmotiviert. "In der Geschichte von Deutschland hat es noch nie eine derartige Wahl gegeben. Ein Wechsel zu einer Bürgerwahl per Mundpropaganda." Popp ist begeistert.

Ins Rollen kommt die Kampagne wenige Tage vor dem ersten Wahltermin. Am 9. Oktober entfallen dann mit rund neun Prozent ungewöhnlich viele Stimmen auf die Kategorie Sonstige. Bei der Auszählung taucht 709-mal der Name Claudia Grau auf: 5,8 Prozent für die Nichtkandidatin. Lange Gesichter machen Otmar Heirich und seine SPD-Parteifreunde. Knappe 40 Prozent reichen zwar, um die übrigen fünf Bewerber auf Distanz zu halten. Die für einen Sieg im ersten Anlauf nötige absolute Mehrheit aber ist verfehlt. Heirich gelingt es nur mühsam, seine Enttäuschung zu verbergen. Sein Ergebnis erklärt er zu einer "guten Basis" für den zweiten Wahlgang.

Die Hoffnungsträgerin

Diese Einschätzung teilt Hans-Georg Wehling nicht. "Das ist ein sehr schlechtes Ergebnis für einen amtierenden Oberbürgermeister", sagt der Tübinger Politikwissenschaftler. "Die Situation ist für den OB brandgefährlich." Wehling hält es für durchaus möglich, dass die Stellvertreterin im zweiten Wahlgang an ihrem Chef vorbeizieht. "Ihr Bekanntheitsgrad ist enorm gestiegen, sie könnte es packen", sagt Wehling.

Dass Claudia Grau nun urplötzlich zur Hoffnungsträgerin avanciert, hat seinen Grund auch im Versagen der Kommunalpolitiker. In einer konzertierten Aktion hatten die Fraktionsspitzen von CDU, Freien Wählern, Nürtinger Liste/Grüne und Jungen Bürgern vor der Wahl versucht, einen namhaften Gegenkandidaten zu Otmar Heirich aufzustellen.

Doch das ehrgeizige Projekt scheiterte schließlich kläglich. Einen Korb nach dem anderen handelten sie sich ein. Der Esslinger Vizelandrat Matthias Berg sagte ebenso ab wie der Kirchheimer Baubürgermeister Günter Riemer und dessen Amtskollege Frank Otte aus Leinfelden-Echterdingen.

Heirich agiert ungeschickt

Heirichs Kritiker quittierten dies mit ungläubigem Entsetzen, teils mit Fatalismus. Seit dem Debakel über die geplante Ansiedlung eines Logistikzentrums der Firma Hugo Boss im Nürtinger Großen Forst ist der Rathauschef bei vielen in Ungnade gefallen. Ackerböden guter Qualität einem 300 Meter langen, 180 Meter breiten und 20 Meter hohen Gebäudekoloss opfern?

Der Widerstand ist enorm, die Stadt Nürtingen hat ihr Stuttgart 21. Dass das Gebiet im Regionalplan für die gewerbliche Entwicklung vorgesehen und eine Festlegung im Flächennutzungsplan längst getroffen worden ist, ändert daran nichts. Heirich agiert in dem Konflikt ungeschickt. Er mauere, informiere die Befürworter des Projekts und lasse die Kritiker im Bebauungsplanverfahren im Dunkeln, so lauten die Vorwürfe.

Unbeirrt geht der Oberbürgermeister seinen Weg. Die Gemeinderatsmehrheit im Rücken, blockt er die Forderung nach einem Bürgerentscheid ab. Bevölkerung und Gemeinderat sind gespalten. Ausgerechnet Boss kippt dann das Projekt durch seinen Rückzug. Dass im Sommer 2010 der Verwaltungsgerichtshof den Bebauungsplan wegen Verfahrensfehlern für ungültig erklärt, ist eine zusätzliche Klatsche. Längst hat der Oberbürgermeister da an Popularität verloren.

Eine Auszeichnung als Deckmäntelchen

Die offenen politischen Verwerfungen, die in der Folge durch weitere umstrittene Projekte verstärkt werden, sind beispiellos in der jüngeren Geschichte Nürtingens, für die vor allem Alfred Bachofer steht. Er leitete von 1979 bis 2004 die Geschicke der 40000 Einwohner zählenden Stadt am Neckar. Unter seiner Regie wurde Nürtingen im Jahr 1999 von der Bertelsmann-Stiftung als bürgerorientierte Kommune ausgezeichnet. Auch sein Nachfolger Heirich nutzt die Ehrung gerne als werbewirksames Instrument. Seine Kritiker wenden jedoch ein, die Stadt beziehe die Bürger viel zu wenig ein, die Auszeichnung sei im Grunde nur ein Deckmäntelchen.

Aus Sicht der Heirich-Unterstützer ist die Bilanz viel besser. Unter dem 60-Jährigen sei in den letzten acht Jahren viel in die Bildung investiert worden, heißt es. Zudem hätten gerade die CDU und auch die Freien Wähler bei Reizthemen häufig die Beschlüsse mitgetragen. Tatsächlich haben beide Fraktionen bei der Kommunalwahl 2009 die Quittung erhalten.

Die meisten Prügel bezieht aber der Oberbürgermeister, der für viele nach und nach zum Oberbuhmann wird. Bei der Kreistagswahl 2004 ist er dank seiner positiven Ausstrahlung mit 12.000 Stimmen noch der Wählerliebling. Fünf Jahre später stürzt er mit 4000 Stimmen regelrecht ab.

Grau genießt einen exzellenten Ruf

Große Erwartungen knüpfen sich an Claudia Grau. Inzwischen beschränkt sich die Internetgemeinde nicht mehr auf digitalen Wahlkampf. Flyer in Papierform werden an Haushalte verteilt. In der Stadt genießt Claudia Grau einen exzellenten Ruf. Sie gilt als kompetent, und ihr wird attestiert, gut mit Menschen umgehen zu können.

Unverbraucht ist sie zudem, politische "Grausamkeiten" musste sie bisher nicht begehen. Dass die parteilose Bürgermeisterin als Projektionsfläche all der unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte dient, mag auch an dem eher durchschnittlichen Bewerberfeld der OB-Wahl liegen. Sebastian Kurz, der mit 25,5Prozent Heirich am dichtesten auf den Fersen ist, disqualifiziert sich selbst.

Der 25-Jährige soll für seinen Wahlkampf massiv bei anderen abgeschrieben haben und musste außerdem zugeben, dass er vor sechs Jahren mit der Tankkarte seines Arbeitgebers seine private Benzinrechnung bezahlte. Das kratzt am Image.

"Ich fühle mich der Stadt Nürtingen verpflichtet"

Claudia Grau ist der Rummel um ihre Person etwas unheimlich. Sie betont immer wieder, dass sie nicht gegen ihren Chef antreten werde und nichts mit der Kampagne zu tun habe. Auf der anderen Seite traut sich die Senkrechtstarterin, die bis Mai 2011 das Amt für Kreisschulen und Immobilien im Landratsamt Esslingen geleitet hat, den OB-Job durchaus zu.

"Ich fühle mich der Stadt Nürtingen verpflichtet, bei einem Rückzug von Herrn Oberbürgermeister Heirich meine Fachkompetenz auch als mögliche Oberbürgermeisterin zur Verfügung zu stellen", erklärte sie jüngst. Das lässt Platz für vielfältige Spekulationen, befeuert die Internetinitiative - und macht vieles möglich.

Der Experte Hans-Georg Wehling sieht Claudia Grau dabei zurzeit in einer durchaus "bequemen Position". Schaffe sie es nicht, die Mehrheit der Stimmen zu bekommen, könne sie mit ihrem jetzigen Chef "relativ friedlich leben". Sie hat ja nicht offiziell kandidiert. Was aber, wenn die Sensation perfekt wird und auf den meisten Stimmzetteln der Name Claudia Grau steht? "Das ist auch okay, denn das ist dann eindeutig der Wählerwille", sagt der Wissenschaftler.