Andreas Kriegenburg inszeniert, Cornelius Meister dirigiert Hans Abrahamsens „The Snow Queen“ an der Bayerischen Staatsoper München: ein berührendes Märchen mit sehr besonderer Musik.

München - Die Oper kommt aus der Stille. Stumm tritt eine Frau aus einer Tür, suchend. „Wo bist du?“ liest man über dem Portal, „Warum hast du mich verlassen?“ Die Frau kauert sich auf eine Wartebank, die Türen fahren auseinander, geben den Blick frei auf eine Schneelandschaft. Links eine Großmutter, die zwei Kindern lautlos vorliest, rechts ein Mann in einem Krankenhausbett. Jetzt erst beginnt die Musik im dreifachen Pianissimo: Xylofon, Akkordeon, Violinen in höchsten Lagen. Es flirrt, es sirrt, starr ist die Kälte, die das Bayerische Staatsorchester aus dem Graben emporsteigen lässt.

 

Wie schlicht diese Klänge wirken, die der dänische Komponist Hans Abrahamsen (66) 2018 für seine Oper über Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ komponiert hat! Das denkt man oft, während man am Samstagabend in der Bayerischen Staatsoper dem Stück eines komponierenden Einzelgängers begegnet. Aber man irrt: Abrahamsen versteckt das Komplexe nur gut. Seine oft solistische Behandlung der 46 Streicher nimmt man kaum je wahr; die mit exotischem Instrumentarium dezent parfümierte Partitur ist gespickt mit Taktwechseln, gegenläufigen Rhythmen und (ungewöhnlichen) Taktzeiten, und am Pult braucht es nicht nur einen Mann wie den Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister, der präzise schlagen, rechnen und vorausdenken kann, sondern an einer besonders verzwickten Stelle sogar einen zweiten Dirigenten.

Die Musik liest zwischen den Zeilen von Andersens Märchen

Diese verzwickte Stelle erzählt von Splittern eines Spiegels, in denen alles Schöne hässlich und alles Gute böse erscheint, und da die Partitur nicht nur meisterhaft Atmosphäre zeichnet, sondern auch eifrig zwischen Zeilen des Märchens liest, greift sie das Thema auf. In Andersens bildmächtiger Parabel über das Erwachsenwerden, in der ein Mädchen einen Jungen aus der Gefangenschaft der Schneekönigin befreit, sind gegenläufige Prinzipien – Gefühl und Verstand, Traum und Wirklichkeit, Mann und Frau – ein Strukturprinzip, und das Orchester, aus dem sich die Gesangsstimmen gleichsam herauswinden, macht alles gleichzeitig hörbar. Musik, die sich in der Zeit ereignet, erzählt vom Vergehen der Zeit. Die zahlreichen Wiederholungen, die Entwicklung der Melodielinien und Phrasen aus kleinen Zellen heraus und die zwischenzeitlich geradezu harmoniesüchtig wirkende Tonalität mag man als post-minimalistisch empfinden. Aber das ist nur eine der vielen Seiten einer Partitur, die selbst schillert wie die Scherben eines Spiegels, der eine bunte Welt in Fragmenten reflektiert.

Das Verrätselte, Komplexe des Märchens und der Musik greift Andreas Kriegenburgs Inszenierung auf: Zu sehen ist ein wunderbar uneindeutiges Bühnenspiel mit den Kindern Kay und Gerda sowie mit deren doppelten Doppelgängern, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen wie elektrische Teilchen; hinzu kommen Chorsänger als Krankenschwestern, Blumen, Schneeflocken, außerdem ein skurriles Krähenpaar, ein sentimentales Rentier und eine Uhr. Für sie alle hat Andrea Schraad ausgesprochen fantasievolle Kostüme entworfen. Barbara Hannigan, der Star des Abends, hat keine dynamisch große Stimme, aber was sie der Gerda an Präzision, Empathie und körperlicher Präsenz mitgibt, ist hinreißend. Auch ansonsten ist die Produktion sängerisch glänzend besetzt: mit dem Stuttgarter Ensemblemitglied Rachael Wilson, die einen vor Farben glühenden Kay gibt, mit Peter Rose als Schneekönigin mit präzisem Bassfundament, mit Caroline Wettergreen und Dean Power als Prinzenpaar, Kevin Conners und Owen Willetts als Krähen und Kataryna Dalayman als Großmutter.

Und es wird Sommer

Harald B. Thor variiert virtuos die Bühnenräume, treibt Infusionsständer, Schnee und rote Rosen über eine Traumszene und führt das Finale auch optisch aus Winter und Eis hinaus und hinein in den Sommer. Hier regiert dann reines Glück: Kay und Gerda, jetzt vielfach gedoubelt, wechseln mehrfach Partner und Position, Kinder spielen Haschen, der Chor jubiliert. Das Ganze verebbt zwar am Ende in vierfachem Pianissimo, ist aber dann doch des satten Glücks ein bisschen zu viel und zu lang. Man ist geneigt, darin den Grund für die Buhrufe aus dem Publikum zu sehen. Andere Gründe gibt es nämlich nicht: In München hat man einem sehr besonderen Opernabend beigewohnt.

Termine 26., 28., 30. Dezember, 4., 6. Januar