Konzertplakate gehören zum Pop wie die Musik selbst. Im Kulturzentrum Merlin kultiviert man das jetzt in Form eines Bildbands. Was hat es mit der neuen Plakatliebe auf sich?
Stuttgart - Ohne Konzerte keine Konzertplakate – auch das ist eine Folge der Corona-Pandemie. Als man von dem Virus noch nichts gehört hatte, gestalteten Mark Bohle und Raffael Kormann ein Jahr lang für jedes Konzert im Stuttgarter Kulturzentrum Merlin ein Plakat. Zu sehen bekam man die Motive vor allem im Internet. Jetzt gibt es sie auch auf Papier, als kunstvoll gebundenes Buch. Der Programmchef Arne Hübner spricht über das Projekt und die Liebe zu Konzertplakaten.
Herr Hübner, auf der Welt gibt es doch genügend Plakate. Warum lassen Sie fürs Merlin noch mehr gestalten?
Was man kennt, ist ja die Standardversion: Bandfoto und darunter Konzertdatum und Location. Aber ganz so wie früher ist das nicht mehr. Statt Plakaten kriegen wir jetzt oftmals Photoshop-Vorlagen, die wir dann selbst in Druck geben müssen.
Wer das Merlin kennt, weiß, dass man sich hier optisch seit Längerem abhebt.
Neben meinen eigenen Arbeiten versuche ich, auch andere Impulse einzuholen. Der Startschuss war ein Konzert des Künstlers Erobique, für das Mark Bohle und Raffael Kormann gemeinsam ein Plakat gestalteten. Den beiden hat das so viel Spaß gemacht, dass sie ab November 2018 ein Jahr lang für jedes Merlin-Konzert ein Plakat entworfen haben. Das ist einfach eine Erweiterung der Musik – und ein kreativer Spielplatz, auf dem sie sich austoben können. Gestalter dürfen das ja nicht immer.
Beschreiben Sie bitte diesen Spielplatz.
Es ist schon ein radikaler Ansatz. Die beiden Designer gehen sehr experimentell mit gestalterischen Stilmitteln wie Farbe, Form und Typografie um und springen dabei auch mal über die Grenze der Lesbarkeit bis hin zur Abstraktion. Gerade deshalb sind die Motive ein schönes Gegengewicht zu den Standardplakaten. Sie haben dem Konzertprogramm etwas hinzugefügt – ganz im Sinne unseres Verständnisses von Popkultur als Verbindung von Musik und Optik.
Ich war auf etlichen der Konzerte, deren Plakate jetzt im Buch sind. Warum habe ich sie nie im Merlin entdeckt?
Die Plakate sind immer erst am Tag des Konzerts erschienen, und wir haben sie zunächst nur digital ausgespielt, hauptsächlich auf Instagram, später auf einem Blog. Irgendwann habe ich ab und zu eines ins Schaufenster gehängt. An sich haben wir aber dem Konzertplakat seine materielle Grundlage genommen. Mit dem Buch geben wir sie zurück.
Wie kamen Sie auf die Idee zum Buch?
Nach mehr als 80 Plakaten bis November 2019 haben wir gespürt, dass da mehr drin steckt. Zwar wurde das Projekt auf Instagram honoriert und bei Wettbewerben sogar ausgezeichnet, letztlich kam aber weniger Feedback, als dieses Projekt verdient hat. Deshalb haben wir gesagt: Wir müssen das doch noch mal ausdrucken. Dass daraus jetzt diese hochwertige Publikation entstanden ist, ist natürlich umso besser.
Auf die Idee kommen auch andere. Der Kunstbuchverlag Colpa Press aus San Francisco hat eine Reihe mit Raveflyern aus den 1990ern aufgelegt. Der Münchner Gestalter Bernd Hofmann finanziert ein Plakatbuch mit der Crowd und gestaltet Plakatkalender. Woher die Begeisterung?
Musik und Optik hängen zusammen. Zum einen sind Flyer und Plakate tolle Konzertsouvenirs. Es gibt eine lebendige Szene an Plakatdesignern, die teilweise sogar kleine Messen abhalten, etwa als Teil des Reeperbahn-Festivals in Hamburg. Die Poster sind wiederum für die Bands eine Einnahmequelle – wenn zum Beispiel Tocotronic besondere Siebdrucke in ihrem Merchandising-Shop vertreibt. Nicht zuletzt ist Musik für viele Gestalterinnen und Gestalter extrem wichtig, etliche definieren sich über Musik. Wenn sie ein offizielles Bandplakat gestalten dürfen, ist das für viele das Größte.
Dass Konzertplakate eine mit der Popmusik verwobene Kunstform sind, haben wir gelernt. Erfüllen sie überhaupt noch ihren Werbezweck?
Oh ja! Wir arbeiten Corona-bedingt sporadisch im Merlin-Café, wo einige der Poster immer noch im Fenster hängen. Es ist erstaunlich, wie viele Passanten stehen bleiben und sich Plakate von Veranstaltungen ansehen, die teilweise gar nicht stattfinden. In Stuttgart gibt es allerdings nur wenige Orte, an denen man sinnvoll Plakate für kleine Shows aufhängen kann. Da muss man zielgruppengerecht arbeiten oder verhältnismäßig viel Geld in die Hand nehmen, um neben Dieter Thomas Kuhn zu hängen. Trotzdem glaube ich daran, dass Plakate Lust auf Konzerte machen – sei es in den sozialen Medien oder an der Wand.
Das heißt, im Merlin werden auch weiterhin Plakate hängen?
Unbedingt! Für das Pop-Freaks-Festival im Januar lassen wir immer Poster von hiesigen Künstlerinnen und Künstlern gestalten. Je nach Pandemieverlauf könnte es diesmal sogar eher die Poster geben als die Konzerte.
Zur Person und zum Buch
Arne Hübner ist im Merlin für das Programm verantwortlich. Er ist selbst Gestalter, hat die Plakataktion angeleiert und an der Buchveröffentlichung mitgewirkt.
Mark Bohle, Raffael Kormann, Kulturzentrum Merlin: „Tonight at Merlin“. 192 Seiten, 80 Konzertplakate. Stuttgart/ Basel: Prima Verlag, 33 Euro.