Mesut Özil hat mit einer geharnischten Erklärung seinen Rücktritt aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft erklärt – die Presse kann ihn einerseits verstehen, andererseits aber auch nicht.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Stuttgart - Die Erklärung zum Rücktritt aus der Nationalmannschaft von Mesut Özil trifft den deutschen Fußball schwer. Das Echo in den deutschen Medien ist unterschiedlich – einig sind sich die Kommentatoren allerdings in einer Sache: Es gibt auf beiden Seiten nur Verlierer: Hier der Deutsche Fußball-Bund mit einem grausligen Krisenmanagement, dort der Fußball-Profi, der in seiner Kritik an der Gesellschaft weit übers Ziel hinausschießt. Die übrige Sicht auf die Dinge ist vielschichtig – die Pressestimmen:

 

Für die „Süddeutsche Zeitung“ ist diese Affäre die ganz große Niederlage des deutschen Fußballs im WM-Sommer 2018:

„Dieses brutale Ende zwischen Özil und der deutschen Nationalmannschaft ist nun die wahre Niederlage dieses Sommers – nicht das Vorrundenaus der deutschen Elf. Nein, die Folgen, die diese Verwerfung mit sich bringt, werden viel schwerwiegender sein, als es Pleiten gegen Mexiko und Südkorea je hätten sein können. Verschiedene Seiten werden sich nun ihren Teil der Wahrheit raussuchen und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Es wird diejenigen geben, die sagen, Erdoğan-Fans hätten in Deutschlands nichts verloren und es wird diejenigen geben, die sagen, Deutsche würden Türken sowieso nicht akzeptieren. Es wird noch mehr geschrien, es wird noch weniger zugehört, das sowieso schon toxische Klima in der Debatte um Integration wird weiter vergiftet. Es ist ein Ende, das Millionen von Verlierern produziert. Nämlich alle, die – ob auf dem Fußballplatz oder daneben – miteinander und nicht gegeneinander arbeiten wollen.“

„Die Welt“ sieht den DFB in der Pflicht, seine Erwartungen an seine Nationalspieler klar zu definieren:

„Und er ist wohl nicht der einzige Deutsche mit türkischen Wurzeln, dem es so geht. Doch zum Bekenntnis, ein deutsches Trikot zu tragen, gehört mehr als das gute Spiel. Nationalspieler sind Vorbild, gerade auch für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Und da muss der DFB zwischen Hymnenschmettern und klarem Bekenntnis definieren, was gefordert ist. Über Jahrzehnte hatten die Deutschen kein Verhältnis zu ihren Einwanderern. Deutschland muss seine Erwartungen klar formulieren, und jeder zwischen den Kulturen wandernde Sportler muss sich entscheiden, ob er das leisten kann oder will. Wer den deutschen Pass annimmt und das Nationaltrikot überzieht, muss wissen, was das für ihn bedeutet. Der Fall Özil hat das klargemacht.“

Die „Berliner Zeitung“ bedauert, dass Özil sich nicht schon früher zu Wort gemeldet hat und bezichtigt den DFB des Nachtretens:

„Tatsache ist, dass Özil und sein Nationalmannschaftskollege Ilkay Gündogan einen schweren Fehler begingen, als sie sich vor der Fußball-WM mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan fotografieren ließen. Sie sind dafür teils scharf kritisiert worden, und das mit Recht. Der zweite Fehler der beiden war das Schweigen im Anschluss. ‚Ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches’, schreibt Özil jetzt. Hätte er diesen ja menschlich sehr verständlichen Satz gleich gesagt, wäre ihm manches, was folgte, erspart geblieben – wenn auch nicht alles. Grindel jedoch hat ein noch größeres Versagen zu verantworten. Er ist nämlich anders als Özil dazu auserkoren, genau solche heiklen Situationen durch Klarheit in der Sache wie durch diplomatisches Geschick zu meistern. Vor Russland hat es Grindel indes wie die gesamte DFB-Riege mit Leisetreterei probiert. Fraglos hätte er sich mit Özil geschmückt, hätte es zu größeren fußballerischen Leistungen des Teams gereicht. Nach dessen Scheitern haben sie unter Grindels Ägide eilig einen Schuldigen gesucht – und meinten, mit Özil einen Schuldigen gefunden zu haben. Schändlicher geht es kaum. Und peinlicher auch nicht.“

Die „Frankfurter Rundschau“ sieht Özil als Spielball mächtiger Berater:

„Es gehört zu Özils persönlicher Tragik, dass ausgerechnet er zum Bolzball seiner türkischen Berater, der geglückten Wahlkampagne des Präsidenten Erdogan, des DFB bei dessen missratener Titelverteidigung und einer auch von enthemmter Bösartigkeit getriebenen Debatte auf dem Resonanzboden von Rassismus geworden ist, gegen den jeder mal treten durfte. Dabei wollte der Mesut doch immer nur gut Fußball spielen. Man darf für ihn hoffen, dass das unheilvolle Gezerre wenigstens bald ein Ende hat. Wenn auch ein wenig rühmliches.“

Die „Bild“ holt nicht weit aus, sie bedauert lediglich die emotionale Abrechnung Özils mit Deutschland:

„Die deutschen Fans haben Mesut Özil viel zu verdanken. Auch er steht für den WM-Triumph 2014. Leider wird man sich rückblickend mehr an seine blindwütige Abrechnung erinnern.“

Und „Spiegel Online“ blickt kritisch auf die Medienberichterstattung in der Affäre:

„In Deutschland wird das Denken aber nicht vorgegeben. Hier herrscht Meinungsfreiheit. Und die gilt für AfD-Anhänger genauso wie für Fußballspieler und für viele Erdogan-Fans, die hier leben. Mit ihnen darf und muss man streiten. Aber man darf sie wegen ihrer Positionen nicht von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließen. Bei der Kritik an Özil und Gündogan schwang aber von Beginn an mit, dass den beiden Sportlern das „Deutschsein“ abgesprochen wurde. Was für eine Anmaßung.“

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sieht ein Versagen des DFB auf ganzer Linie:

„Sein Rundumschlag wird vielen noch lange in den Ohren klingen. Er wird den DFB und seinen Präsidenten Grindel, den Özil offen zum Rücktritt auffordert, noch tiefer in die Krise stürzen. Das Versagen des Verbandes rund um die Causa Özil/Erdogan, verbunden mit dem Versagen in der Aufarbeitung des sportlichen Desasters während der WM könnte selbst einen über alle Maßen selbstgefälligen Verband wie den DFB zu Reaktionen zwingen, die mehr sind als Retusche. In vielem, nicht in allem, ist Özil über das Ziel hinausgeschossen. Grindel offen rassistische Tendenzen zu unterstellen, geht zu weit, auch Özils pauschale Attacken gegen Medien, die in die gleiche Richtung zielen sind ebenso abstrus wie unverschämt. Derjenige, der ihn tatsächlich zum Sündenbock gemacht hat für das Scheitern in Russland, Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, kommt in seiner Wutrede dagegen erstaunlich gut weg.“