Mit einer Regiopraxis geht die Kassenärztliche Vereinigung in Baiersbronn neue Wege, um dem drohenden Ärztemangel in ländlichen Regionen entgegenzuwirken. Noch geht die Rechnung der drei beteiligten Hausärzte aber nicht ganz auf.

Baiersbronn - Das alte „Spritzenhaus“ in Baiersbronn (Kreis Freudenstadt) musste nicht einmal umgetauft werden. Erst diente es der Feuerwehr, nun gibt es dort deutlich kleinere Spritzen – im neu eingerichteten Gesundheitszentrum mit einer großen Hausarztpraxis.

 

Die Praxis ist die erste sogenannte Regiopraxis, ein Modellprojekt, das die Kassenärztliche Vereinigung (KVBW) in Baden-Württemberg im Spätsommer 2012 auf den Weg gebracht hat. Das Ziel: dem drohenden Hausärztemangel auf dem Land entgegenzuwirken. Die KVBW berät das Projekt und unterstützt es auch finanziell für die Dauer von drei Jahren. 75 000 Euro gibt es als einmalige Anschubfinanzierung sowie 3000 Euro pro Quartal als Strukturpauschale. In dem hausärztlichen Versorgungszentrum in Baiersbronn haben sich zwei ansässige Arztpraxen mit drei Allgemeinmedizinern zu einer Praxisgemeinschaft zusammengeschlossen. Die Vorteile: die Praxen bleiben finanziell unabhängig, nutzen aber gemeinsam Räume und haben gemeinsames Personal. Zudem sollen junge Assistenzärzte im Fach Allgemeinmedizin weitergebildet werden.

Baiersbronner Bürgermeister Ruf spricht von einem Glücksfall

So weit die Theorie. Tatsächlich aber ist diese Praxisgemeinschaft ein Glücksfall für Baiersbronn, wie der Bürgermeister Michael Ruf sagt. Rund 14 500 Einwohner leben in der mit knapp 20 000 Hektar größten Flächengemeinde Baden-Württembergs, die sich nebst Zentrum auf acht Ortsteile erstreckt. 2009 habe es noch zwölf Allgemeinmediziner, einen Kinderarzt und eine Gynäkologin gegeben. Inzwischen gibt es die Frauenärztin nicht mehr, zwei Hausärzte haben ihre Praxen geschlossen, ein weiterer wird bald folgen. Von den neun verbleibenden Ärzten sind drei bereits älter als 65. Auch sie werden höchstwahrscheinlich keinen Nachfolger finden. Baiersbronn droht ein akuter Ärztemangel. „Ohne das Ärztehaus wäre alles noch viel schlimmer“, sagt Michael Ruf.

Dieses Schreckensszenario hatte auch den Allgemeinmediziner und Molekularbiologen Ernst Klumpp umgetrieben. Als „leidenschaftlicher Baiersbronner“, wie er selbst sagt, wollte er am absehbaren Ende seiner Berufslaufbahn seine Patienten nicht im Stich lassen. Schon vor Jahren machte sich der heute 62-Jährige auf die Suche, sah sich um in Arztpraxen in Ludwigsburg und in Stuttgart, sprach mit jungen Medizinern über deren Wünsche und Vorstellungen von einem Arbeitsplatz in einer Arztpraxis auf dem Lande. Und warb bei den Medizinern im Ort für seine Idee.

Den Neuanfang wagten letztlich nur sein bisheriger Partner Dieter Krampitz (58) und Michael Seitz (47). Für die drei Ärzte wiederum war es ein Glücksfall, dass die Gemeinde das Konzept befürwortete und mit dem leer stehenden Spritzenhaus samt Grundstück eine passende, mitten im Ort und beim Bahnhof gelegene Immobilie anbieten konnte. Obendrein fand sich ein engagierter, ortsansässiger Investor, auch die Unterstützung der Kassenärztlichen Vereinigung wurde zugesagt.

Das denkmalgeschützte Spritzenhaus mit der ortstypischen Schindelfassade wurde renoviert, dort ist eine Apotheke untergebracht. Direkt daneben erstreckt sich ein moderner Holz-Glas-Neubau, mit einem Sanitätshaus, dem Kundencenter der Krankenkasse AOK, einer Physio-, einer Naturheilkunde- und einer Orthopädiepraxis.

Optisch ein Hingucker – Naturaufnahmen zieren Praxis

Die Regiopraxis hat die gesamte erste Etage belegt. „Das ist eine Investition in die Zukunft“, sagt Klumpp. Denn auf der Fläche von 540 Quadratmetern könnten sechs bis sieben Ärzte arbeiten, so viele, wie zur Versorgung der Patienten im Kernort Baiersbronn notwendig wären. Die Praxis ist modern und dennoch heimatverbunden eingerichtet. Angesichts der wandhohen Landschaftsfotos oder Aufnahmen vom Auerhuhn könnte man fast glauben, man wäre im Infozentrum des neuen Nationalparks Schwarzwald. Alles wurde effizient geplant – so gibt es etwa einen direkten und entsprechend breiten Zugang für Rettungskräfte zum Notfallraum.

Zurzeit tragen nur die drei Gründer die gesamte Investitionslast. Mit sechs medizinischen Vollzeit- und drei Teilzeitkräften haben sie gegenüber früher höhere Personalkosten – weil jede Praxisschließung ihnen eine Vielzahl neuer Patienten beschert. Die telefonische Annahme wurde deshalb mit zwei Arbeitsplätzen separat untergebracht. Immerhin sind täglich bis zu 400 Anrufe zu bewältigen.

Auch für die Ärzte ist die Arbeitsbelastung deutlich gestiegen. So hätten sie sich das nicht vorgestellt, gesteht das Trio freimütig. „Von der Idee, dass durch dieses Projekt der Einzelne entlastet wird, sind wir noch weit entfernt“, sagt Michael Seitz. „Wir arbeiten seit eineinhalb Jahren deutlich mehr als früher, ohne dass es sich auf dem Bankkonto niederschlägt“, erläutert Ernst Klumpp. Ein Arzt im Ruhestand hilft einmal in der Woche vormittags und bei Engpässen aus. Dennoch sei die Stimmung zuversichtlich, versichert Dieter Krampitz. Er ist überzeugt, dass sich das große Wagnis lohnen werde. Denn die bisher vergebliche Hoffnung auf einen vierten Teilhaber könnte sich bald erfüllen.

Hoffnungsträger in Sicht

Der Hoffnungsträger heißt Wolfgang von Meißner. Der 35 Jahre alte Facharzt für Anästhesie ist seit zwei Monaten in der Regiopraxis angestellt. Dank eines Modellprojekts der Universität Heidelberg, mit dem dem drohenden Hausarztmangel begegnet werden soll, absolviert von Meißner in Baiersbronn eine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Die Kassenärztliche Vereinigung unterstützt dieses Projekt mit einem monatlichen Zuschuss von 3500 Euro für den auszubildenden Allgemeinmediziner – unabhängig vom Projekt Regiopraxis.

Diesmal ist es von Meißner, der das Glück ins Spiel bringt. Per Zufall sei er bei einem Spaziergang auf die KV-Regiopraxis in Baiersbronn gestoßen, das Projekt war ihm bekannt. Niemals aber hatte der Facharzt, der lange Jahre im Klinikum Stuttgart und später in der Kinder-und Jugendklinik Olgäle als verantwortlicher Anästhesist gearbeitet hatte, eine eigene Praxis als Karriereziel - und schon gar keine auf dem Land. Aber seine Frau, eine Internistin, war im November vergangenen Jahres ans Kreiskrankenhaus Freudenstadt gewechselt, eine von ihm als nächsten Karriereschritt angepeilte Oberarztstelle in der Anästhesie war dort aber nicht frei. In der Baiersbronner Regiopraxis jedoch wurde ihm der rote Teppich ausgebreitet: Das Ärzteteam hatte Verständnis für die familiäre Situation ihres neuen „Azubis“, der Frau und Kinder hat, und stellte ihn zu seinem bisherigen Facharztgehalt ein. In der Praxisgemeinschaft bestimmt offensichtlich Weitsicht das Handeln und nicht Gewinnmaximierung. „Das ist eine Investition in die Zukunft“, wiederholt sich Klumpp und spricht von „Vertrauensvorschuss“.

Vertrauensvorschuss scheint sich auszuzahlen

Wolfgang von Meißner jedenfalls ist begeistert. Geradezu euphorisch erzählt er von „idealen Bedingungen“. Er könne von drei sehr erfahrenen, unterschiedlichen Ärztepersönlichkeiten lernen, alle drei gehören schon lange zur akademischen Lehrpraxis der Universität Heidelberg. Von Meißner ist begeistert, dass er Patienten nun über längere Zeit begleiten kann. Das medizinische Denken, auch mal zuzuwarten, sei ganz anders als im Krankenhaus, wo eher das volle Programm mit vielen Untersuchungen abgefahren werde mit dem Ziel, die Verweildauer der Patienten zu senken. Ein großer Vorteil für alle Beteiligten sei die zweijährige Weiterbildungszeit, die zeigen werde, ob man später tatsächlich als Partner im Team zusammenarbeiten könne. Zudem habe von Meißner die Chance, sich ohne Risiko einen Patientenstamm aufzubauen und damit auch seinen Einstieg in die Praxisgemeinschaft ganz genau zu kalkulieren, erläutert Ernst Klumpp.

Der Vertrauensvorschuss in den jungen Kollegen scheint sich bereits auszuzahlen. Nach gut zweieinhalb Monaten in der Hausarztpraxis steht für den Mediziner mit der langjährigen Klinik- und auch Notarzterfahrung fest: „Das System Krankenhaus ist für mich gestorben. Ich will nicht mehr weg von hier. Mir gefällt es hier sehr gut.“ Auch in Baiersbronn, dort wohnt er inzwischen – und singt im Kirchenchor, zusammen mit einigen Patienten.