Die letzte Kampagne verzeichnete deutliche Defizite an Begeisterung, Beteiligung und Besuchern bei der Prunksitzung der Zigeunerinsel. Die Stuttgarter Karnevalisten bilanzieren die Saison durchaus selbstkritisch – und benennen die Probleme.

Es muss noch einmal über den Karneval in Stuttgart geredet werden. Schon klar, die Hochzeit der Narren ist seit drei Wochen Vergangenheit. Aber in den Aschermittwochs-Abschiedsschmerz mischte sich in diesem Jahr bei vielen Aktiven der hiesigen Karnevalsvereine das Gefühl, dass mehr vorbei sein könnte als nur die Kampagne. Die rechte Resonanz. Die breite Begeisterung. Und die Lust, aktiv mitzumachen. Ehrenamtlich, wohlgemerkt.

 

Bei ihrer Prunksitzung bekommt die Gesellschaft Zigeunerinsel die Liederhalle nicht mehr voll und dazu bitterböse Kritik, beim Sturm von zehn Karnevalsgesellschaften aufs Rathaus am Rosenmontag machen sich die Aktiven rar, und beim Umzug am Faschingsdienstag herrschen trotz strahlendem Wetter auch nicht gerade Zuschauergedränge und Außer-Rand-und-Band-Jubel. Da kommt schnell dieses „s’isch-elles-nemme-des-Gefühl“ auf.

Die Rückschau fällt nachdenklich aus

Zeit für eine Rückschau mit Anita Rösslein, Präsidentin vom Festkomitee Stuttgarter Karnevalsvereine, Thomas Haas, Präsident der KG Zigeunerinsel, Andreas Goihl vom Karnevalsclub Stuttgarter Rössle, Udo Glaubig von der KG Blau Weiß und Manfred Renner von der KG Weiß-Grün. Die Stimmung ist gut, aber krisenbewusst und nachdenklich. „Die Gesellschaft hat sich geändert und damit auch unser Publikum“, stellt Haas fest. Es fehle das Bewusstsein für die Stadtgesellschaft. „Außerdem steigt die Nachfrage nach Party und Ballermann, und wir stehen mit unseren Veranstaltungen im Widerspruch zu dieser Erwartungshaltung.“ An diesem Widerspruch ist Haas gerade gescheitert. Für die Prunksitzung Anfang Februar in der Liederhalle, die kaum 600 Gäste angelockt hat, erhielt  er  eine  harsche Kritik, in der über einen Social-Media-Kanal und die Leserbrief-Redaktion von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten dem Unmut Luft gemacht wurde. Da ist von der „grausigsten Sitzung aller Zeiten“ die Rede, von einem Programm „unter aller Sau“ und „null Stimmung“. Der Brief endet mit dem Vorwurf ans Präsidium, die Gesellschaft „runtergewirtschaftet zu haben“.

Man gibt sich selbstkritisch – und spricht über Geld

Haas reagiert nicht empört. Gelassen-einsichtig streut er sich Asche aufs Haupt. Manfred Feddern, ein ehemaliger Zigeunerinsel-Aktiver, der aus Norddeutschland für die Prunksitzung 900 Kilometer nach Stuttgart gereist ist, habe „zum Teil recht“. Ja, es habe Pannen gegeben, schon am Anfang – und wenn man das Publikum nicht gleich einfangen könne, erreiche man es trotz riesigem Aufwand mit Musik, Gesang, Tanz und Comedy nicht mehr. „Aber was und welche Musik wollen die Leute wirklich?“, fragt Haas etwas ratlos: „Die Leute fahren nach Köln und schwärmen, dort hätten sie jetzt wirklich Karneval erlebt. Aber Köln hat eine andere Tradition und mit den prominenten kölschen Gruppen auch andere Songs.“

Es muss auch über Geld geredet werden: „Gerade habe ich die Rechnung von der Liederhalle bekommen“, berichtet Haas und zählt auf: „Allein 10 000 Euro Miete, dazu die Nebenkosten, jeder Handgriff kostet, unter 20 000 Euro brauche ich gar nicht anzufangen.“ Im letzten Jahr habe das Defizit 18 000 Euro betragen. Der Kritiker Feddern störte sich an der „sinnlosen Auflistung der Sponsoren“. Aber sie müssen gepflegt werden, denn die Zigeunerinsel hat ein Problem: „Der Name diskreditiert uns, die Compliance-Abteilungen der Unternehmen winken ab.“ An eine Namensänderung sei derzeit trotzdem nicht gedacht.

Die Pandemie als Zäsur

Glücklich ist man mit der Liederhalle sowieso nicht: „Die hat keine Atmosphäre, vor allem, wenn sie halb leer ist. Da fehlt die Dichte“, sagt Haas. „Stuttgart hat keine geeigneten Locations“, klagt Anita Rösslein. Eine Nummer kleiner funktioniere besser. Sie hat den Storchen-Ball in der ausverkauften Sängerhalle Untertürkheim veranstaltet, tolle Stimmung, alles prima, aber sich über eine gewaltige Preissteigerung geärgert: „Der Verpächter hat die Miete von 580 auf 2500 Euro  hochgesetzt.“  Da  ist Andreas Goihl mit der Festhalle Feuerbach in städtischer Regie besser dran: „Wir bekommen sie einmal im Jahr kostenlos für unseren Rössle-Ball. Eine traditionelle Karnevalssitzung, aber auch mit Tanz. Und alle kommen kostümiert.“

Einig sind sich alle, dass sich die Pandemie als Zäsur erwiesen habe: „Da sind viele ausgestiegen“, sagt Anita Rösslein, die auch außerhalb des Karnevals mit „halli, hallo“ grüßt und mit ungebrochener Energie die „Couchpotatoes wieder vom Sofa holen“ will. Und wie steht es mit dem Nachwuchs? Eher schlecht. Hoffnung macht der Kinderfasching: „Wir sind überrannt worden“, erzählen Haas und Goihl. „Und anschließend werden immer eine Handvoll Mädchen für die Ausbildung zum Gardetanz angemeldet.“ Die Zigeunerinsel will die Gunst der Stunde ausnutzen und an den Kinderfasching im Bürgerzentrum West  gleich eine Party für Jugendliche dranhängen.

Fehlt den Stuttgartern das Karnevalsgen?

Kann es sein, dass Stuttgart trotz elf großer Vereine und etwa 3000 Aktiven mit dem Karneval fremdelt? Fehlt den Menschen hier – den Schwaben ebenso wie den Rei’geschmeckten –, die laut Anita Rösslein beim Umzug nur „auf Bombole scharf sind“, das nötige Gen? Andreas Goihl widerspricht: „Der Karneval hat hier eine lange Tradition und ist Teil unserer kulturellen Identität. Wir müssen das Potenzial wieder wecken.“

Nach der Kampagne ist vor der Kampagne. Im Grunde steht das Programm, auch die Prunksitzung in der Liederhalle ist fest eingeplant. „Aber unter neuer Veranstaltungsleitung“, betont Haas. Wir verstehen: Eine Art Trainerwechsel.