Psychologen in der Formel 1 Die Handbremse im Kopf

Mentaltrainer galten in der Formel 1 lange als Hilfe für Schwächlinge, nun beginnt ein Umdenken. Nur wer im Kopf stark ist, kann auf der Strecke volle Leistung bringen. Lewis Hamilton wählt einen anderen Weg.
Stuttgart - Romain Grosjean flog im Lotus knapp am Kopf von Ferrari-Fahrer Fernando Alonso vorbei. Es war ein heftiger Startunfall, den der Franzose 2012 in Spa verursacht hatte – und der ihn belastete. Das Wissen, der Schuldige gewesen zu sein, blockierte ihn. „Spa war der Schalter, etwas zu verändern“, erzählte der heutige Haas-Pilot kürzlich und klopfte bei einem Psychologen an. Der löste die Handbremse im Kopf. „Ich bin froh, dass ich meine Arbeit weiter erledigen konnte“, berichtete der 34-Jährige. Vor 20 Jahren haben die Hasardeure im Motorsport bei einer Blockade vielleicht einen Orthopäden zurate gezogen, einen Psycho-Doc aufzusuchen, hielten die meisten für ein Zeichen von Schwäche. „Ich habe in meiner letzten Saison 2016 mit einem Mentaltrainer zusammengearbeitet“, verriet Ex-Weltmeister Nico Rosberg in einer TV-Show, „die Formel 1 ist eine Machowelt, deshalb behielt ich das lieber für mich.“
Julia Goessler ist überzeugt, dass die Psychologie hilft, geht es darum, Blockaden zu lösen, die im Unterbewusstsein schlummern. Es geht ihr nicht allein darum, Traumata zu besiegen. Sie hilft Sportlern, sich in der Leistung zu verbessern, indem sie Störendes aus der Seele ausmistet. „Viele sind erstaunt, wenn sie bemerken, was sie hindert“, sagt die Berlinerin, „Ziel ist, diese Hemmnisse aus dem Energiefeld des Körpers zu entfernen.“ Mit Gesprächen und über Kinesiologie stöbert Goessler die Bremsen auf. Mithilfe des Muskeltests befragt sie den Körper. Der Sportler streckt den Arm waagerecht nach vorn, normalerweise kann er Gegendruck leicht standhalten. Bei einer Blockade ist der Energiefluss gestört, der Widerstand des Arms sinkt. Erklärung: Alle Erfahrungen sind in Nervensystem und Zellgedächtnis gespeichert, wenn der Körper schwächelt, ist die Blockade entdeckt. „Wenn ein Rennfahrer stets am Start Probleme hat“, sagt sie, „kann ich die Ursache finden.“
Seelenheilung durch Handauflegen
Dies geschieht vergleichsweise einfach. Goessler streicht über die entsprechenden Körpermeridiane und löst die Mentalsperre. Heilen durch Handauflegen. „Im Motorsport würde kaum einer zugeben, dass er an solche Dinge glaubt“, sagt die Frau, die eine eigene Praxis in Berlin betreibt und zahlreiche Profisportler unter ihren Klienten hat. „Jeder kann seine Traumata überwinden, nur die Bereitschaft muss vorhanden sein“, betont die 40-Jährige.
Riccardo Ceccarellis Arbeit ist anders. Der Italiener hat in Viareggio seit 1989 über 1500 Rennfahrer physisch, psychisch und medizinisch unterstützt, er betreute Formel-1-Teams, BMW schickt die Werkspiloten zu ihm. „Formula Medicine“ nennt der Italiener sein Programm: Je effizienter ein Gehirn arbeitet, desto leistungsfähiger ist es bei Belastung. Ceccarelli vergleicht das menschliche Schaltzentrum mit einem Motor. Der muss nicht nur auf viele PS getunt werden, er muss mit einem niedrigen Energieverbrauch unter Volllast funktionieren. „Viele gehen erst zum Mentaltrainer, wenn sie ein Problem haben“, erläutert Ceccarelli, „unser Training richtet sich an Rennfahrer, die die Leistung ihres Gehirns optimieren wollen.“
Lewis Hamilton setzt auf Meditation
Bei der Analyse erkennt ein Fahrer anhand der Daten Stärken und Schwächen. „Viele Toprennfahrer zeichnen sich durch ein hohes Maß an Selbsterkenntnis aus“, sagt Ceccarelli, der Charles Leclerc (Ferrari) und Daniel Ricciardo (Renault) sehr gut kennt, „nur wer sich sehr gut einschätzen kann, wird in Stresssituationen die optimale Leistung bringen.“ Um die verschiedenen Stufen zu erreichen, nutzt „Formula Medicine“ Trainingsformen und Messmethoden. So werden Gehirnleistungen zu Konzentrations-, Koordinations- oder Reaktionsübungen erfasst. Ebenso werden Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Gehirns geschult. „Wenn etwa das Wetter umschlägt, muss der Fahrer in der Lage sein, sich in kurzer Zeit den neuen Gegebenheiten anpassen“, sagt Ceccarelli. Wissenschaft pur in der Toskana. „Es gab nicht die eine Maßnahme“, sagt BMW-Formel-E-Pilot Alexander Sims, „es waren verschiedene Hebel, die wir verstellt haben, damit ich besser mit Drucksituationen umgehen kann.“
Mercedes-Pilot Lewis Hamilton leistet sich keinen Psycho-Doc, braucht er vor dem Großen Preis von Bahrain am Sonntag (15.10 Uhr/RTL) jemanden zum Reden, spricht er mit Angela Cullen, seiner Physiotherapeutin. Die Neuseeländerin ist die Einzige im Team, die Hamilton nah an sich heranlässt. Der 35-Jährige findet sein seelisches Gleichgewicht zudem im Yoga und beim Meditieren. „Ich war einer, der glaubte: Das bringt doch nichts“, erzählt er, „ich habe mich in Büchern kundig gemacht und weiß jetzt, wie ich mit Energielevels umgehen muss und wie ich mich verbessern kann.“ Beide Mercedes-Fahrer benötigen keinen Mentalcoach, jedoch weiß die Teamleitung, dass die Anforderungen der Formel 1 die Crew belasten können, weshalb die Grand-Prix-Mannschaft mit Psychologe Ceri Evans arbeitete, der auch die neuseeländischen Rugby-Profis betreute. „Wir wollen sicherstellen, dass wir auch unter Druck die Bestleistungen abrufen können“, sagt ein Teammitglied. Alle im Team haben überdies Zugang zu einer App, die hilft, Stress richtig zu kanalisieren. Offenbar findet im Motorsport eine Umorientierung statt. Wer zum Mentalcoach geht, hat nicht zwingend eine Macke oder glaubt an Zauberei.
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