Auf welcher Rechtsgrundlage öffnete Angela Merkel 2015 die Grenzen? Darauf gibt es immer noch keine klare Antwort. Doch die Diskussion flammt nun wieder auf – wegen eines Gerichts, das den Rechtsstaat partiell „außer Kraft gesetzt“ sieht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Der CDU gehört Georg Wengert seit 44 Jahren an. Zu Unionsgrößen pflegt der Wirtschaftsprüfer aus Singen am Hohentwiel gute Kontakte, mehrfach begleitete er Ministerpräsidenten oder Minister bei Auslandsreisen. Doch 2017 wählte Wengert erstmals nicht CDU, sondern FDP. Auslöser war die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und seine Zweifel an deren rechtlichem Fundament: Bis heute sei unklar, auf welcher Grundlage die „Grenzöffnung“ im Herbst 2015 erfolgt sei.

 

Das würde auch die CDU-Fraktion im Stuttgarter Landtag interessieren. Als die Abgeordneten unlängst den Verfassungsrichter Peter Müller (CDU) zu Gast hatten, erkundigten sie sich bei ihm nach der Massenaufnahme von Flüchtlingen. Auskunft gab Müller indes nur als Privatperson: Aus humanitären Gründen hätte auch er die Hunderttausende ins Land gelassen. Rechtlich vermied er jede Aussage zur einsamen Entscheidung der Kanzlerin. Begründung laut Teilnehmern: er könnte das Thema in Karlsruhe noch einmal auf den Tisch bekommen.Auch Jens Gnisa wüsste gerne, was die Grundlage für die Grenzöffnung war. Doch das sei „bis heute nicht geklärt“, bedauerte der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes kürzlich bei einer Diskussion unserer Zeitung. Es gebe höchst kontroverse Ansichten dazu, aber keine „Auflösung“. An der Debatte stört Gnisa besonders, das dem Recht der „Hinweis auf Werte“ entgegengesetzt werde; Kritik werde so „argumentativ totgemacht“.

Von den Bürgern verlangt der Staat Rechtstreue

Bald zweieinhalb Jahre ist es inzwischen her, dass deutsches Recht faktisch außer Kraft gesetzt wurde. Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, kann sich nach dem Grundgesetz eigentlich nicht auf das Asylrecht berufen. Da Deutschland von solchen Ländern umgeben ist, käme das eigentlich nur für Flüchtlinge in Betracht, die auf dem See- oder dem Luftweg kommen. Doch seit dem 4. September 2015 durften Zigtausende auf dem Landweg einreisen. Grundlage war eine Absprache zwischen Merkel und Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der eine mündliche Anweisung an die für den Grenzschutz zuständige Bundespolizei gab. Die Flüchtlingspolitik ist seither zwar in vielerlei Hinsicht restriktiver geworden, aber die „Grenzöffnung“ beschäftigt Bürger, Politiker und Juristen bis heute. Tenor: Wenn der Staat sich selbst nicht ans Recht hält, wie will er das von seinen Bürgern verlangen?Aufgeflammt ist die Debatte aktuell wieder, als ein bereits im Februar 2017 ergangener Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Koblenz breiter bekannt wurde. Ein Senat für Familiensachen hatte sich darin mit der Frage befasst, ob für einen wohl aus Gambia stammenden jungen Mann eine Vormundschaft angeordnet werden solle. Asylantrag habe er nicht gestellt, Herkunft und Alter seien unbelegt. Selbst wenn er noch minderjährig sein sollte, entschied der Senat, bestehe das vom Jugendamt reklamierte „Fürsorgebedürfnis“ nicht. Ganz am Ende des Beschlusses, unter der Randziffer 58, folgten dann einige brisante Sätze. Der Betroffene habe sich zwar eindeutig durch seine „unerlaubte Einreise in die Bundesrepublik“ strafbar gemacht. „Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt“, befanden die Richter, „und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt.“ Aktenzeichen: 13 UF 32 / 17.

Brisante Sätze im Urteil des OLG Koblenz

Der Rechtsstaat sei teilweise außer Kraft gesetzt – das konstatiert nicht irgendein verschrobener Provinzrichter, sondern ein deutsches Obergericht, ein Senat, dessen Mitglieder es als besonders befähigte Juristen bis ans OLG brachten? Kein Wunder, dass das Urteil rasch Kreise zog. Beim Sprecher des Koblenzer Gerichts gehen seither regelmäßig Anfragen ein. Bürger und Medien erbäten den Beschluss im Wortlaut, berichtet er. Manche Anrufer – besonders aus Kreisen der AfD oder der „Reichsbürger“ – lobten die Kollegen für ihren „Mut, das endlich einmal auszusprechen“, andere erkundigten sich, wie der Senat zu seiner Ansicht komme. Doch die Richter erklären sich nicht weiter. Es handele sich jedenfalls „nicht um die offizielle Meinung des OLG“, betont der Sprecher. In den Medien wurde das Urteil bisher eher zurückhaltend aufgegriffen, umso breiter dafür in diversen, oft rechtslastigen Internetforen.

Das Verfassungsgericht wird nicht tätig

Was aber bedeutet es, wenn ein Obergericht zu einem derart alarmierenden Befund kommt? Müsste das nicht irgendwelche Folgen haben? Wie andere Bürger wollte das auch der CDU-Mann Wengert wissen und schrieb diverse, aus seiner Sicht zuständige Stellen an. Die Antworten waren bisher wenig ergiebig. Der Mainzer Justizminister Herbert Mertin (FDP) etwa verwies nur auf die richterliche Unabhängigkeit; Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung der Gerichte seien „einer Überprüfung von Seiten des Ministeriums entzogen“.

Aber auch die auf Bundesebene zuständigen Institutionen tragen wenig zur Klärung bei. Zu „Urteilen anderer Gerichte“ könne man sich nicht äußern, heißt es beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, genauso wenig wie zu „allgemeinen politischen Fragen“. Handlungsmöglichkeiten eröffne der Koblenzer Beschluss nicht, das Gericht werde ohnehin nur auf Antrag tätig. Solche Anträge – in Form von Verfassungsbeschwerden – gab es zur Grenzöffnung zwar einige, mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Sie seien aber „alle nicht zur Entscheidung angenommen“ worden, sagt der Gerichtssprecher. Binnen drei Wochen wurde auch eine Beschwerde des Rechtsaußen-Netzwerks „Ein Prozent“ zurückgewiesen, unter anderem vom Verfassungsrichter Müller.

Die kurze Bearbeitungszeit sei bei der Nichtannahme ohne Begründung „durchaus üblich“, sagt der Sprecher; es gehe da meist um „als eindeutig eingeschätzte Fälle“. Wie eindeutig aber ist ein Fall, in dem sogar ein früherer Verfassungsrichter, Udo di Fabio, als Gutachter für den Freistaat Bayern erhebliche Zweifel angemeldet hatte? Auch dazu gibt es keinen Kommentar. Von der damals diagnostizierten „Herrschaft des Unrechts“ spricht der Auftraggeber, der CSU-Chef und Ministerpräsident Horst Seehofer, schon länger nicht mehr.Auch das Bundespresseamt sieht die Fragen zur Grenzöffnung „vielfach durch die Bundesregierung beantwortet“. Ein Sprecher verweist etwa auf die Sommerpressekonferenz 2017 von Angela Merkel. Damals verwies die Kanzlerin auf die „humanitäre Ausnahmesituation“, in der es „wichtig und richtig“ gewesen sei, die Menschen aufzunehmen. Später bestritt ihr Sprecher Steffen Seibert den Vorwurf, es habe einen „Mangel an demokratischer Legitimation“ gegeben; im Zuge der Flüchtlingspolitik habe der Bundestag zahlreiche Gesetzesvorhaben diskutiert und beschlossen.

Die Wissenschaftler des Bundestags bleiben vage

Bei der Grenzöffnung selbst aber wurde das Parlament nicht beteiligt. Ob das nötig gewesen wäre, untersuchte 2017 ein Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Für und Wider wogen die zur Neutralität verpflichteten Experten sorgsam ab, ein klares Votum vermieden sie. Vor allem ein Satz aus der elfseitigen Ausarbeitung macht seither die Runde: In der Antwort auf eine Bundestagsanfrage zum Herbst 2015 habe die Regierung „die genaue Rechtsgrundlage . . . gerade nicht benannt“.Zumindest den neuen Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Bundestag lässt das Koblenzer Urteil nicht kalt. Es sei „bemerkenswert“ und bestätige seine Auffassung, sagt der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner. Seit nunmehr zweieinhalb Jahren werde „die illegale Einreise nach Deutschland nicht mehr sanktioniert, sondern stattdessen mit umfänglichen Leistungen belohnt“. Wie solle man das bezeichnen „wenn nicht als Außerkraftsetzung der rechtsstaatlichen Ordnung“, fragt Brandner. Die AfD werde den offenen Fragen im noch zu beantragenden „Untersuchungsausschuss Merkel“ nachgehen. Man habe inzwischen eine Anfrage zu dem OLG-Beschluss an die Bundesregierung gerichtet, ließ der AfD-Abgeordnete dem Singener Wengert schreiben.

Der Bundespräsident hält sich heraus

Auf eine Antwort des Bundespräsidenten wartet der CDU-Mann hingegen noch immer. „In großer Sorge“ hatte er wegen des Koblenzer Urteils an Frank-Walter Steinmeier (SPD) geschrieben. Was er als Staatsoberhaupt zu tun gedenke, um die rechtsstaatliche Ordnung wiederherzustellen? Doch das Bundespräsidialamt hält sich da raus, wie ein Sprecher unserer Zeitung sagte: Man bewerte weder die „operative Politik der Bundesregierung“ noch „rechtliche Einschätzungen von Institutionen oder Experten“.