Wie kommen Ausländer in der Region Stuttgart klar? Eine Serie über Familien, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: die Hamids aus dem Iran.

Stuttgart - Wenn Anahita und ihre Mutter an Teheran denken, denken sie an eine Farbe. Für Anahita, 14, ist Teheran hellblau, so wie Stuttgart. Für Azadeh, 50, ist Teheran weiß und Stuttgart ist rot. Alle ein bis zwei Jahre besuchen die Hamids den Iran und die Verwandten, die dort noch leben. Es ist, als hätte man zwei Heimaten, sagen sie. Für Anahita fühlen sich beide Orte ähnlich an. Gut. Hellblau. Für Azadeh ist Teheran das, wovon sie oft träumt. Weiß. Und Stuttgart ist eben der Alltag, die Realität. Rot.

 

Im Wohnzimmer ihrer Wohnung am Stuttgarter Kräherwald erinnert auf den ersten Blick nicht viel an die persische Kultur. An den grün gestrichenen Wänden hängen moderne Bilder. Auf dem Esstisch aus Glas stehen ein Teller mit Weihnachtsdeko, eine Schale mit Spekulatius und eine mit Datteln. Nur die kleinen, silbern eingefassten Teegläschen und die Bücher mit den geschwungenen Schriftzeichen im Regal vermitteln etwas Orientalisches. „Datteln mit Tee“, sagt Azadeh Hamid, das sei für sie ein Stück Heimat. Aber deutsches Weihnachtsgebäck sei eben auch gut.

Azadeh kannte Bilder aus Deutschland – und hatte von den Freiheiten für Frauen gehört

Die Hamids leben schon lange in Deutschland. Abdolnasser, 59, kam vor ziemlich genau 40 Jahren hierher. Seine Brüder waren schon nach der sogenannten Weißen Revolution im Iran Anfang der 1960er Jahre geflohen, nach den Reformen des Schah, des umstrittenen Herrschers, und den darauffolgenden gewalttätigen Auseinandersetzungen. Abdolnasser Hamid schloss im Iran noch die Schule ab, kam dann 1977 nach. Er bemühte sich um eine Aufenthaltserlaubnis und studierte an der Universität Stuttgart Maschinenbau. In dem Beruf arbeitet er noch heute.

Azadeh kam vor 20 Jahren nach Deutschland – nach ihrer Ausbildung zur Sporttrainerin in Teheran. Im Iran hatten Frauen damals zunehmend schlechtere Chancen, sagt sie, und sie hatte schon als Teenager von Deutschland und der Schweiz geträumt. „Ich kannte Bilder, und man hörte von den Freiheiten, die es dort auch für Frauen gab.“ Also kam sie her, zuerst nach Hamburg, dann Stuttgart. Bei einer Veranstaltung des iranischen Kulturvereins in Stuttgart hat sie dann Abdolnasser gesehen – und ihn angesprochen. Wenig später kam die Hochzeit, vier Jahre später kam die Tochter zur Welt.

In ihrem Beruf hat Azadeh Hamid nicht mehr gearbeitet, weil es mit der Zulassung hier schwer war und weil sie einen Bandscheibenvorfall hatte. Heute ist sie Kulturdolmetscherin für Pro Familia, übersetzt für geflüchtete Frauen, erklärt ihnen das Gesundheitssystem und die Gepflogenheiten in Deutschland. „Ich kenne ja beide Seiten“, sagt Azadeh und lacht.

Der Iran, das ist laute Musik und Wärme – Deutschland ist Ordnung und Meinungsfreiheit

Fragt man die Hamids, wie sie sich fühlen, sagen sie, sie seien Iraner. Und fangen dann an zu grübeln. Manchmal hört man einen weichen Akzent in ihrem Deutsch, bei Abdolnasser ab und an auch einen schwäbischen Einschlag. „Eigentlich wissen wir nicht so recht, was wir sind“, sagt er. „Vielleicht fühlen wir persisch und denken deutsch“, sagt Azadeh.

Der Iran oder Persien, wie die Hamids sagen, das ist für sie: die eigene Kindheit, die Familie, die Gastfreundschaft, die laute Musik, die Wärme, die Lebendigkeit. Das sind fröhliche Gesichter. Und das ist auch das Essen: würziges Gemüse mit Lammfleisch und Safran, oder Tschelo-Kebab, Fleisch am Spieß.

Deutschland, das ist dagegen: die Ordnung, die geregelte Bürokratie, die Ruhe, die Freiheit, zu denken und zu kritisieren, die Kälte im Winter. Das sind grimmige, gestresste Gesichter. Und manchmal sind das Maultaschen und Schupfnudeln, das kochen sie oft.

Nur, so einfach, so schwarz und weiß sei es dann eben doch nicht, sagt Abdolnasser Hamid. „Wenn wir in den Iran fahren, ist das Urlaub für uns. Ein gutes Gefühl.“ Wenn man dort leben müsse, sagt er, sei das etwas ganz anderes. „Die Gesellschaft engt die Menschen dort ein. Warum würden sonst so viele Jugendliche abhauen?“ Der distanziertere Umgang zwischen Männern und Frauen, die Verfolgung von Homosexuellen, die Tatsache, dass Frauen ein Kopftuch tragen müssen, dass man das System nicht infrage stellen kann. „Vor allem gegenüber den Denkern und Kritikern ist das Regime hart“, sagt Abdolnasser Hamid.

An Deutschland haben sie von Anfang an geschätzt, dass man hier frei reden kann, dass die Menschenwürde geachtet wird. „Vielen Leuten hier ist gar nicht bewusst, was es für ein Privileg ist, in Freiheit und Demokratie zu leben“, sagt Abdolnasser Hamid. Und dann ist da noch die Bewunderung für die deutsche Kultur und die deutsche Geschichte, die man sofort spürt, wenn Abdolnasser ins Erzählen kommt. „Was dieses Land für weltbewegende Theorien, Wissenschaftler, Musiker und Revolutionäre hervorgebracht hat, ist faszinierend“, sagt er. Die Art zu denken, so systematisch, das sei etwas Besonderes. „Hier wird nicht nur geschimpft, hier wird auch an Lösungen gearbeitet“, sagt seine Frau Azadeh. Diese Disziplin habe zwar auf der einen Seite etwas Kaltes, etwas Einschränkendes, aber sie bringe Deutschland eben auch nach vorne.

Hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen

Inzwischen haben sich Azadeh und Abdolnasser Hamid das deutsche Denken und die Ordnung in vielen Punkten angewöhnt. „Ich mag die Pünktlichkeit, die Zuverlässigkeit“, sagt sie. Die Bilder, die Azadeh in ihrer Freizeit mit Öl- und Aquarellfarben malt, erinnern an moderne, westliche Kunst. Bunte Farbkleckse auf ruhigen, einfarbigen Hintergründen. Ihr Mann erzählt von dem Blick, den er auf die Nachbarschaft hat. „Wenn ums Haus rum oder in der Tiefgarage Zeug rumliegt, das da nicht hingehört, sage ich der Hausverwaltung Bescheid“, meint er und lacht.

Anahita fühlt sich bei genau diesen Dingen manchmal ein bisschen fremd in Deutschland. „Ich komme immer zu spät. Hier versteht das niemand, im Iran ist das ganz normal“, sagt sie. Dafür wird ihr das Leben im Iran nach zwei, drei Wochen zu viel. Die ständigen Treffen mit der Großfamilie zum Essen und Reden, das Tanzen bis drei Uhr nachts – ohne dass jemand wegen Ruhestörung schimpft. Sie lernt dann auch wieder die Ruhe in Deutschland zu schätzen, wenn sie zurück ist.

Überhaupt ist auch sie oft hin- und hergerissen zwischen beiden Kulturen, zwischen beiden Identitäten – obwohl sie in Deutschland geboren ist. In ihrer Grundschulklasse war sie das einzige Kind mit tiefschwarzen Haaren und dunklen Augen. Damals wollte sie nicht anders sein, wollte nicht einsam sein, wollte keine Iranerin sein. Also hat sie sich jahrelang geweigert, ihren Eltern auf Persisch zu antworten. Erst später, auf dem Gymnasium, hat sie gemerkt, dass es viele Kinder mit ausländischen Wurzeln gibt, und viele, die noch eine zweite Muttersprache haben. Sie hat sich dann das Lesen auf Persisch beigebracht und sich mehr mit der Kultur auseinandergesetzt.

Die Heimat, das ist für Abdolnasser die jahrtausende alte persische Kultur

Heute sagt Anahita von sich, sie sei Iranerin. Aber auch das ist nicht so einfach. „In Deutschland fühle ich mich oft als Ausländerin, im Iran als Deutsche.“ Als sie beim letzten Urlaub im Iran in einem Tempel deutsche Touristen hörte, hat sie mit ihrer Mutter laut auf Deutsch gesprochen. Damit die anderen hören konnten, dass sie auch Deutsche sei.

Abdolnasser Hamid holt ein paar alte, persische Bücher aus dem Regal im Wohnzimmer und liest daraus vor. Die Sprache klingt weich und melodisch. Auch die Perser, sagt Abdolnasser, hätten viele Denker und Literaten hervorgebracht – und Musiker. Die Heimat, das merkt man, ist für ihn vor allem die jahrtausendealte persische Kultur, die in der Antike auch die Griechen und Römer und somit auch die europäische Kultur geprägt habe, wie er sagt. Heimat ist für ihn nicht unbedingt der heutige Vielvölkerstaat Iran, in dem sich verschiedene Kulturen und Sprachen vermischt haben und der als islamische Republik von schiitischen Geistlichen geführt wird. Hamids sind nicht religiös.

Am 21. Dezember feiern sie die Geburt des Lichts – das persische Weihnachten

Am 21. Dezember feiert die Familie mit dem iranischen Kulturverein in Stuttgart die längste und dunkelste Nacht des Jahres, die Yalda-Nacht. Mit Granatäpfeln, Wassermelonen und Gedichten von Hafez, einem persischen Dichter und Mystiker aus dem 14. Jahrhundert – und inzwischen auch mit viel Musik. Ein heidnisches Fest, bei dem jedes Jahr gut 200 Iraner zusammenkommen. „Wir feiern die Geburt des Lichts. Das ist so etwas wie das persische Weihnachten“, sagt Azadeh Hamid. Sie schenkt noch einmal Tee nach und nimmt sich einen Spekulatius aus der Schale. So unterschiedlich seien beide Kulturen gar nicht.

Vielleicht müsse man sich auch gar nicht entscheiden, gar nicht abwägen zwischen zwei Identitäten, sagt Abdolnasser Hamid, zwischen Maultaschen und Kebab, Datteln und Spekulatius. Man könne ja aus beiden das Beste nehmen. Sie lachen. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass es gut ist, zwei Sprachen zu können und sich mit zwei Kulturen auszukennen“, sagt Anahita. Falls sie später einmal Kinder hat, wird sie ihnen auch Persisch beibringen. Das weiß sie schon jetzt.