Die Welt feiert Richard Wagner, der vor zweihundert Jahren zur Welt kam. Aber was wäre aus dem Komponisten geworden, hätte ihn nicht im Augenblick höchster Not ein Bote Ludwigs II. am Neckar aufgespürt? Ein Essay des StZ-Redakteurs Götz Thieme

Stuttgart - Zur Jahreswende 1863/64 war Richard Wagner am Ende. Er saß in Wien in einer Villen- Etage in Penzing am Schönbrunner Schlossgarten, die er sich nicht leisten konnte. Er war fünfzig Jahre alt, hatte neun Opern und zwei Drittel einer weiteren komponiert, auf die Bühnen gekommen waren fünf: „Das Liebesverbot“, „Rienzi, der letzte der Tribunen“, „Der fliegende Holländer“, „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“ und „Lohengrin“. Tantiemen brachten sie ihm kaum ein – jedenfalls nicht in dem Umfang, dass einer wie er davon leben konnte. Im Gegensatz zu Gioachino Rossini, der zur gleichen Zeit in Paris die Einnahmen aus seinen Opern verfutterte und nicht ärmer wurde, obwohl die Premiere der letzten, „Guillaume Tell“, 35 Jahre zurücklag.

 

Wagner werkelte also verzweifelt am ersten Akt der „Meistersinger von Nürnberg“, wollte nicht verwinden, dass man in Wien nicht über die Vorbereitung seiner Oper „Tristan und Isolde“ hinausgekommen war – nach 77 Proben gab man im März 1863 endgültig den Plan einer Aufführung auf –, und kaufte großzügig von geborgtem Geld Weihnachtsgeschenke für die Musikerfreunde Heinrich Porges, Peter Cornelius und Carl Tausig. Eine für Anfang des Jahres geplante lukrative Konzertreise nach St. Petersburg zerschlug sich. Der Schuldenstand stieg wie das Hochwasser der Donau im Frühjahr und drohte den Mann mit dem Barett wegzureißen. Die Wechsel, die Wagner schuldig war, hat er akribisch notiert: 12 100 Gulden.

Nicht einmal Cosima konnte helfen

Selbst die Liebe bot keinen Ausweg. Im November hatten Cosima, verheiratete von Bülow, und Richard, in der Ehe mit Minna gefesselt, in Berlin ihr Lebensbündnis während einer Kutschfahrt begründet: „Unter Tränen und Schluchzen besiegelten wir das Bekenntnis, uns einzig gegenseitig anzugehören.“ Jetzt war Cosima weit weg und die Schuldhaft ziemlich nah: der Komponist gibt Todesgedanken Raum. „Ich fühle bestimmt, dass es nun bald vorbei sein wird. Noch eine traurige, letzte Mühe, und es ist überstanden“, schrieb Wagner an Cosima.

Die Lage war düster, trotzdem versuchte es der alte Spötter mit Ironie und dichtete sich einen Grabspruch: „Hier liegt Wagner, der nichts geworden, nicht einmal Ritter vom lumpigsten Orden; nicht einen Hund hinterm Ofen entlockt’ er, Universitäten nicht mal ’nen Dokter.“ Alles in allem war er kurz davor aufzugeben, wie er später rückblickend bekannte: „Ich war am Vergehen; jede Bemühung für mein Gedeihen war fehlgeschlagen; das sonderbarste, fast dämonische Missgeschick vereitelte jeden meiner Schritte; ich war entschlossen, für alle Zeiten mich in eine Zuflucht zurückzuziehen und für immer jeder künstlerischen Unternehmung zu entsagen.“

„Das bisschen Luxus, das ich leiden mag“

Hier half nur Flucht. Am 23. März 1864 verließ Wagner Wien. Über München, wo er am Karfreitag ziellos die Stadt durchstreifend in einem Schaufenster das Bildnis des kurz zuvor auf den Thron gestiegenen 18-jährigen König Ludwig II. erblickte, ging es über den Bodensee nach Mariafeld, dem Landsitz der Familie Wille in Meilen, 15 Kilometer südlich von Zürich am Ostufer des Sees gelegen. Richtig willkommen war er der Freundin Eliza Wille nicht, das Ehepaar Wesendonck wollte ihn überhaupt nicht sehen. Ein Brief an Mathilde Wesendonck, mit der ihn genau zehn Jahre zuvor leidenschaftliche Gefühle verbunden hatten, die den „Tristan“ inspirierten, ging ungeöffnet an ihn zurück. Wagner kränkelte, die Blase machte ihm zu schaffen, der Lebensmut fehlte. In einem Brief an Cornelius rief er aus: „Ein gutes, wahrhaft hilfreiches Wunder muss mir jetzt begegnen; sonst ist’s aus!“

Als der Hausherr François Wille von einer Orientreise zurückkehrt, wird Wagner unmissverständlich bedeutet, er möge besser weiterziehen, auch drohen nach wie vor die Gläubiger. Selbst den wohlmeinenden Willes geht Wagners Überspanntheit und Anspruchshaltung wohl zu weit. „Ich bin anders organisiert, habe reizbare Nerven; Schönheit, Glanz und Licht muss ich haben! Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche ! Ich kann nicht leben auf einer Organistenstelle wie Ihr Meister Bach! – . Ist es denn eine unerhörte Forderung, wenn ich meine, das bisschen Luxus, das ich leiden mag, komme mir zu? Ich, der ich der Welt und Tausenden Genuss bereite?“ So sei es aus Wagner herausgebrochen, erinnerte sich Eliza Wille.

Linderung in Bad Cannstatt

Wagner reist ab. Bietet Stuttgart eine Chance, wo es diesen Kapellmeister Karl Eckert gibt, der ihm früher in Wien freundlich begegnet ist? Auch versprechen die Mineralbäder im nahe gelegenen Bad Cannstatt Linderung. Vielleicht würde er mit der schwäbischen Stadt diesmal mehr Glück haben, denn eigentlich ist Wagner nicht besonders gut auf sie zu sprechen. Ein paar Jahre zuvor, 1858, war am Hoftheater erwogen worden, den „Tannhäuser“ aufzuführen. Richard Wagner forderte aus Venedig, wohin er sich nach dem Zürcher Wesendonck-Desaster geflüchtet hatte, 50 Louisdor Tantiemen. Die Aufführung am 13. Juni 1859 wurde kritisch aufgenommen, die württembergischen Herrscher schätzten Wagners Opern nicht, es folgten zunächst keinen weiteren Aufführungen; im Badischen, in Karlsruhe an der Hofoper, war man viel fortschrittlicher.

Mitte der 1860er Jahre ist Stuttgart eine beschauliche, mittelgroße Stadt, allerdings mit einer größeren Dynamik beim Bevölkerungszuwachs als Köln, Frankfurt und München, rund 69 000 Einwohner leben Ende 1864 am Neckar-Westufer. Trotz eines konservativen Theaterspielplans will Richard Wagner Fühlung mit dem Intendanten, Baron von Gall, aufnehmen, noch harrt ja der „Tristan“ einer Aufführung. Also verlässt Wagner den Zürichsee, Ende April trifft er in Stuttgart ein, neueste Forschungen legen nahe, dass es am 28. gewesen sein kann.

Ohne Stuttgart kein Bayreuth

In Anbetracht der Bedeutung der nun folgenden Stuttgarter Ereignisse in Wagners Biografie, etwa für seine Bayreuther Pläne, die ohne die Unterstützung Ludwigs II. kaum realisiert worden wären, erstaunt, wie wenig präzise seine Biografen diese Tage schildern. Die Darstellungen stützen sich vor allem auf Wagners Memoiren „Mein Leben“ und die Erinnerungen des Kapellmeisters Wendelin Weißheimer – obwohl die Berichte in etlichen Punkten divergieren. Noch 2006 hat Udo Bermbach in seiner Biografie beispielsweise vom „Gasthof“ Marquardt gesprochen, in den sich Wagner einquartiert habe. Das Marquardt, zentral am Schlossplatz gelegen, war über Stuttgart hinaus bekannt und ein Hotel ersten Ranges – Wagner hielt selbst in höchster Not auf noble Unterbringung.

Das an der Ecke Königstraße/Schlossstraße (heute Bolzstraße) gelegene Hotel existiert nicht mehr. Der Marquardt-Bau wurde 1944 zerstört und 1947/48 wieder aufgebaut. Der Richard-Wagner-Verband Stuttgart ließ 1989 an der Seite zur Königstraße eine Tafel anbringen, die an Richard Wagners Aufenthalte 1864 und 1872 erinnert. Von dort aus – er bewohnte zwei Räume, deren Bezahlung ihm der kunstsinnige Hotelbesitzer erließ – telegrafierte er am 29. April an Weißheimer in Mainz, er möge ihn besuchen. Der Kapellmeister Weißheimer sollte parallel zu Wagners Komposition an den „Meistersingern“ den Klavierauszug erstellen. Inkognito, wie vielfach kolportiert wurde, bewegte sich Wagner nicht in der Stadt, das belegt die Fremdenliste im „Neuen Tagblatt“, in der sein Name aufgeführt ist.

Verstimmt vom „Don Giovanni“

Der Kapellmeister Eckert begegnet Wagner freundlich, lädt ihn in sein Haus ein. Mit Weißheimer besucht der Komponist am 1. Mai eine von Eckert dirigierte „Don Giovanni“-Aufführung, die ihn im Ganzen aber „tödlich verstimmt“ und davon überzeugt, dass mit diesen Kräften der „Tristan“ nicht aufzuführen ist. In der Titelrolle erlebt er Angelo Neumann, der später als Impresario mit dem „Ring“ durch Europa tourt – Wagners Urteil über dessen Gesangsleistung ist nicht überliefert. Neumann wohnt gleich neben dem Komponisten im Hotel Marquardt, wo er bemerkt, dass Wagner „wie ein gefangener Löwe“ auf- und abgeht. Am Tag drauf lernt Wagner den Hoftheaterintendanten Ferdinand von Gall kennen. Er scheint ein weiteres Konzert besucht zu haben, bei dem ihn der Geiger Edmund Singer beeindruckt haben muss: 1872 wird er ihn als Konzertmeister für die Aufführung der neunten Sinfonie von Beethoven zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses engagieren.

Am folgenden 3. Mai kommt es nun zur oft erzählten wundersamen Errettung Wagners aus aller Not. Erst 2006 hat der Historiker Daniel Jütte den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse geklärt, indem er die bisher nicht berücksichtigten Kalender und Notizbücher von Franz Seraph von Pfistermeister auswertete, die in der heute von wenigen beherrschten Gabelsberger-Kurzschrift verfasst sind. Der Kabinettssekretär Pfistermeister ist von Ludwig II. entsandt worden, Kontakt mit Wagner aufzunehmen. Vergeblich hat Pfistermeister ihn zunächst in Wien und Zürich gesucht.

Quartier im Hotel Marquardt

Am 2. Mai trifft er in Stuttgart ein, nimmt Quartier im Marquardt und stellt fest, dass Wagner sich bei Eckert aufhält. Unwahrscheinlich, dass er Wagner dort am Abend zu treffen versucht, seine Karte abgibt, dort abgewiesen wird, wie Wagner es in seinen Erinnerungen beschreibt, nachträglich das ohnehin legendenhafte Geschehen ausschmückend. Auch dass Wagner deswegen schlecht schlief – „stets auf Übles mich vorbereitend, verbrachte ich eine unruhige Nacht“ – ist nicht nachzuvollziehen, wenn man Pfistermeisters Notizen über den Verlauf des nächsten Tags, Dienstag, den 3. Mai, liest: „Des Vormittags um ½ 11 Uhr etwa Richard Wagner, der bis gegen 10 Uhr im Bette lag und meinen Auftrag ausgerichtet.“ Bei der Unterredung überreicht der Sekretär Wagner einen Ring und eine Fotografie des Königs und überbringt ihm die Einladung, unter dessen Schutz in München ausschließlich seinem Werk zu leben.

Wagners Zukunft sieht nun so rosig aus wie die Seidenbänder, die er bei seiner Wiener Putzmacherin, dem „lieben Fräulein Bertha“, zu bestellen pflegt. Der Verstellungskünstler Wagner stellt den Ton seines Dankschreibens auf gehobene Kitschlage ein und trifft beim jungen schwulen König auf genau die Empfindungssaite, die der eskapistische Monarch immer selbst dann zum Schwingen bringen wird, wenn er sich der rauen Gegenwart nicht stellen mag: ihm ist der Traum lieber als der Tag. Wagner schreibt unmittelbar nach der Unterredung an seinen künftigen Gönner: „Theurer huldvoller König! Diese Thränen himmlischester Rührung sende ich Ihnen, um Ihnen zu sagen, dass nun die Wunder der Poesie wie eine göttliche Wirklichkeit in mein armes, liebebedürftiges Leben getreten sind! – Und dieses Leben, sein letztes Dichten und Tönen gehört nun Ihnen, mein gnadenreicher junger König: verfügen Sie darüber als über Ihr Eigenthum! Im höchsten Entzücken, treu und wahr, Ihr Unterthan Richard Wagner.“

Ludwig II. schlägt ein neues Kapitel in Wagners Leben auf

Am späten Nachmittag desselben Tages reist er mit Pfistermeister nach München; der Kabinettssekretär erhält noch kurz vor Mitternacht Audienz beim König, „während er im Bette lag“. Bei der Gelegenheit überreicht er ihm wahrscheinlich Wagners Jubelbrief. Am nächsten Tag empfängt Ludwig II. den Komponisten. Ein neues Kapitel in Wagners Biografie beginnt. Und es ist im Rückblick eines, das dem Komponisten nicht in jeder Hinsicht gut ansteht, aber es sieht die Verwirklichung all seiner Theaterbau- und Opernpläne.

Ohne den jungen bayerischen König, darüber gibt es keinen Zweifel, wären nicht so bald die Uraufführungen von „Tristan und Isolde“ (1865) und den „Meistersingern“ in München über die Bühne gegangen. Ohne ihn und seine Schatulle hätte Wagner später nicht seine Festspielidee in Bayreuth samt dem Bau des für den „Ring“ konzipierten Theaters verwirklichen können. Und ob der „Parsifal“, zugeschnitten auf das Raum- und Akustikwunder dieses Saals, entstanden wäre, ist zu bezweifeln. Im Juni 1861 hatte der 15-jährige Thronfolger seine erste Wagner-Oper gehört, den „Lohengrin“. Der geheimnisvolle Ritter in Blau, der auf einem von einem Schwan gezogenen Nachen bei den Menschen anlandet und, als diese ihm nicht genügen können, wieder davonzieht, war die ideale Projektionsfigur für den pubertierenden Thronfolger. Die sphärische Musik tat das ihrige, sie bot Rausch, Selbstvergessenheit, Traum und Sehnsucht.

Als der kleine Wagner, der 1,66 Meter maß, dem 1,90 Meter großen König im Mai 1864 erstmals gegenübertritt, beginnt ein grandioses Missverständnis. Liebelos erzogen suchte Ludwig II. eine Vaterfigur, Einverständnis in Kunst, Theater und Musik. Auf heutige Leser wirkt der Ton seiner Liebesbriefe an Wagner peinlich: „Geliebter! Einziger!“ – doch es waren Rettungsrufe eines früh Gefährdeten. Der so Adressierte antwortete gleich jauchzend. Aber Wagner klimperte allein auf der Gefühlsklaviatur, um die Gulden fließen zu sehen. Und sie flossen, nach heutigem Wert in die Millionen gehend. Der selbstsüchtige Wagner verpasste so ein echte Tat: die verantwortungsvolle, offenherzige Éducation sentimentale seines kunstsinnigen Förderers. Wieder eine Freundschaft, die Wagner am Ende auf dem Gewissen hatte.