All diese Werke boten Wagner eine Fülle von Motiven, die seit bald zweihundert Jahren in unzähligen Opern verwendet wurden. Ein ganz erheblicher Teil der Operngeschichte variiert Ereignisse aus Ariosts „Rasendem Roland“ oder Tassos „Befreitem Jerusalem“. Die Personen und deren Verwicklungen waren Europäern so vertraut wie die Sagen des klassischen Altertums, an die sich Ariost und Tasso zuweilen anlehnen. Kein Dramatiker und vor allem kein Operndramatiker konnte mit Geschichten arbeiten, die seinem Publikum vollständig fremd waren. Er musste den Zuschauern Hinweise geben, um sich das Fremde und bisher Unerhörte durch Erinnerung an Verwandtes verständlich machen zu können. Die Legende vom „Fliegenden Holländer“, der in diesem Jahr die Richard-Wagner-Festspiele eröffnet, nannte Wagner später ein „mythisches Gedicht des Volkes“. Doch sie ist eine ganz moderne Mär. Sie kam unter dem Eindruck der Ruhelosigkeit Europas seit dem Ausgreifen in die weite Welt im 16. Jahrhundert auf. Heinrich Heine verschaffte ihr erst eine gewisse Popularität. Wagner konnte Heines geraffte Inhaltsangabe, um die dürre Handlung dramatisch überhaupt in Bewegung zu bringen, mit Reminiszenzen an Carlo Gozzis „Raben“ anreichern, den sein Onkel übersetzt hatte.

 

Im „Raben“ ist es ein asiatischer König, der eine ganz bestimmte, genau beschriebene Frau sucht, um von dem Fluch erlöst zu werden, der auf ihm lastet, weil er den Raben erschoss, der einem Geist lieb und teuer war. Er selber fährt nicht durch die Meere, um dies Bild in der Realität zu suchen. Das macht sein Bruder für ihn. Nach Gewitter und Sturm an Land verschlagen sieht er in einer Prinzessin das lebendige Abbild des Wunschbildes. Sie liebt sofort den ihr verheißenen, noch ganz fremden Gatten, bereit, alles zu tun, damit er zur früheren Lebensfreude zurückfinde. Sie ist – wie Senta für ihren Holländer – zum Liebestod bereit, um ihn zu erlösen. Und beide werden erlöst. Die Liebe Sentas oder des Königs zu einem Bild, zu einer personifizierten Idee des Schönen und Wahren, des gesteigerten Leben, ist ein altes literarisches Motiv. Vertraut war Wagner – und seinem Publikum – Taminos Bildnisarie in der „Zauberflöte“ ebenso wie Gozzis Prinz Kalaf, der sich in Turandots Bild so verliebte wie Calderons Oktavianus Augustus in das Bildnis der Mariamne („El mayor monstruo del mundo“).

Wagners Holländer ist zudem ein ruheloser Wanderer wie der Bruder von Gozzis König. Das Wandern war längst nicht nur des Müllers Lust oder der im Winter Reisenden Verhängnis. Goethe handelt in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ von allen möglichen Wanderern, Wagner selbst nennt seinen Wotan im „Siegfried“ Wanderer. Ein Wanderer, dem freilich keine Frau zu helfen wusste, ist auch der Peter Schlemihl von Chamisso, der, statt sich weiterhin nach dem Untergang wie der an seiner Erlösung vorübergehend verzweifelnde Holländer zu sehnen, mit den Siebenmeilenstiefeln die Welt durcheilt und in wandernder Unruhe sein Glück findet, ohne dem Moment wie der nie rastende Faust zuzurufen: Verweile doch, du bist so schön.

Wagner blieb im „Fliegenden Holländer“ den typischen Opernklischees verhaftet: eine alltägliche Wirklichkeit mit dem Wunderbaren zu verknüpfen, mit einer Wahrheit, die hinter allem lauert und das vordergründig Erfahrbare hintergründig infrage stellt und fragwürdig macht.

Geheime Wahrheit, himmlische und irdische Liebe

Richard Wagner – Komponist mit Geschichtsgefühl

Die Festspiele, wie sie bis heute existieren, sind das Werk seiner Frau Cosima, die mit bewundernswerter Energie für die Institutionalisierung des Festspielgedankens und für einen eigenen Bayreuther Stil sorgte. Sie entschied, die Festspiele nur Wagners Werken vorzubehalten. Der „Meister“ selbst war unentschlossen, ob seine Werke nicht gerade des Vergleichs mit vorbildlichen Aufführungen der Opern längst „klassischer“ Komponisten bedurften, um in ihrer Bedeutung richtig gewürdigt werden zu können. Wagner sah sich in der Tradition Glucks, Mozarts oder Webers, aber auch Cherubinis und Spontinis, ja Bellinis. Richard Wagner ist der erste Komponist, der sich und seine Kunst ganz und gar historisch verstand – als Abschluss einer Entwicklung, die von der Oper weg hin zum musikalischen Drama drängte. Unter solchen Voraussetzungen hätte Bayreuth zu einem europäischen Kulturmuseum spannungsvoller Beziehungen und Begegnungen werden können. Allerdings entsprach es Wagners Absichten, seine drei frühen Opern nie in Bayreuth aufzuführen, sein Werk also mit dem „Fliegenden Holländer“ beginnen zu lassen.

Seine frühen Opern „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“ sind geschickte Bemühungen, den Klischees des romantischen Zauberspiels, der italienischen Komödie und der großen historischen Oper der Franzosen zu entsprechen. Alle drei Opern haben eines gemeinsam: sie hängen mit Italien zusammen. „Die Feen“ greifen auf Motive aus Märchenspielen des Venezianers Carlo Gozzi zurück, „Das Liebesverbot“ spielt im Sizilien der Stauferzeit, und „Rienzi“ behandelt einen Stoff aus dem Rom um 1350. Als ein typischer deutscher Gymnasiast war der junge Wagner mit italienischer Kunst und Geschichte vertraut. Italien ersetzte den Ästheten das ideale Griechenland als das klassische Land der Kunst und der Schönheit.

Deutsche Bildungsbürger waren von Italien begeistert

Der Onkel Adolf Wagner, ein umständlicher, aber kenntnisreicher Philologe, hatte eine – auch von Goethe gerühmte – Anthologie italienischer Meisterwerke herausgegeben. Er machte seinen Neffen neben Gozzi mit Dante, Ariost und Tasso bekannt, und auch mit dem Tragiker Vittorio Alfieri, über den Schiller und Goethe diskutierten. All diese Dichter gehörten zum selbstverständlichen Bildungsbesitz der von Italien begeisterten Deutschen.

Für Wagner kam noch eine weitere literarische Gattung hinzu: die Libretti zu den italienischen Opern. Einige der Operndichter – wie Apostolo Zeno oder Pietro Metastasio – werden zu den Klassikern der italienischen Literatur gerechnet. Mit deren Werken lernte Wagner Italienisch. Das brachte ihn allerdings bei seinen ersten Italienaufenthalten 1852 und 1853 in Verlegenheit, weil er nicht wusste, wie Milch auf Italienisch heißt; Helden und Heroinen in den Opern seufzen und schmachten, bestellen aber nie Milch zum Kaffee.

Richard Wagner – Ariost und Tasso als Ideenlieferanten

All diese Werke boten Wagner eine Fülle von Motiven, die seit bald zweihundert Jahren in unzähligen Opern verwendet wurden. Ein ganz erheblicher Teil der Operngeschichte variiert Ereignisse aus Ariosts „Rasendem Roland“ oder Tassos „Befreitem Jerusalem“. Die Personen und deren Verwicklungen waren Europäern so vertraut wie die Sagen des klassischen Altertums, an die sich Ariost und Tasso zuweilen anlehnen. Kein Dramatiker und vor allem kein Operndramatiker konnte mit Geschichten arbeiten, die seinem Publikum vollständig fremd waren. Er musste den Zuschauern Hinweise geben, um sich das Fremde und bisher Unerhörte durch Erinnerung an Verwandtes verständlich machen zu können. Die Legende vom „Fliegenden Holländer“, der in diesem Jahr die Richard-Wagner-Festspiele eröffnet, nannte Wagner später ein „mythisches Gedicht des Volkes“. Doch sie ist eine ganz moderne Mär. Sie kam unter dem Eindruck der Ruhelosigkeit Europas seit dem Ausgreifen in die weite Welt im 16. Jahrhundert auf. Heinrich Heine verschaffte ihr erst eine gewisse Popularität. Wagner konnte Heines geraffte Inhaltsangabe, um die dürre Handlung dramatisch überhaupt in Bewegung zu bringen, mit Reminiszenzen an Carlo Gozzis „Raben“ anreichern, den sein Onkel übersetzt hatte.

Im „Raben“ ist es ein asiatischer König, der eine ganz bestimmte, genau beschriebene Frau sucht, um von dem Fluch erlöst zu werden, der auf ihm lastet, weil er den Raben erschoss, der einem Geist lieb und teuer war. Er selber fährt nicht durch die Meere, um dies Bild in der Realität zu suchen. Das macht sein Bruder für ihn. Nach Gewitter und Sturm an Land verschlagen sieht er in einer Prinzessin das lebendige Abbild des Wunschbildes. Sie liebt sofort den ihr verheißenen, noch ganz fremden Gatten, bereit, alles zu tun, damit er zur früheren Lebensfreude zurückfinde. Sie ist – wie Senta für ihren Holländer – zum Liebestod bereit, um ihn zu erlösen. Und beide werden erlöst. Die Liebe Sentas oder des Königs zu einem Bild, zu einer personifizierten Idee des Schönen und Wahren, des gesteigerten Leben, ist ein altes literarisches Motiv. Vertraut war Wagner – und seinem Publikum – Taminos Bildnisarie in der „Zauberflöte“ ebenso wie Gozzis Prinz Kalaf, der sich in Turandots Bild so verliebte wie Calderons Oktavianus Augustus in das Bildnis der Mariamne („El mayor monstruo del mundo“).

Wagners Holländer ist zudem ein ruheloser Wanderer wie der Bruder von Gozzis König. Das Wandern war längst nicht nur des Müllers Lust oder der im Winter Reisenden Verhängnis. Goethe handelt in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ von allen möglichen Wanderern, Wagner selbst nennt seinen Wotan im „Siegfried“ Wanderer. Ein Wanderer, dem freilich keine Frau zu helfen wusste, ist auch der Peter Schlemihl von Chamisso, der, statt sich weiterhin nach dem Untergang wie der an seiner Erlösung vorübergehend verzweifelnde Holländer zu sehnen, mit den Siebenmeilenstiefeln die Welt durcheilt und in wandernder Unruhe sein Glück findet, ohne dem Moment wie der nie rastende Faust zuzurufen: Verweile doch, du bist so schön.

Wagner blieb im „Fliegenden Holländer“ den typischen Opernklischees verhaftet: eine alltägliche Wirklichkeit mit dem Wunderbaren zu verknüpfen, mit einer Wahrheit, die hinter allem lauert und das vordergründig Erfahrbare hintergründig infrage stellt und fragwürdig macht.

Geheime Wahrheit, himmlische und irdische Liebe

Auch im „Tannhäuser“ kann das deutsche Kostüm nicht davon ablenken, dass ein großes italienisches Thema der Handlung zugrunde liegt: der Gegensatz von himmlischer und irdischer Liebe. Dantes Beatrice bewahrte ihren Ritter und Sänger, den Dichter Dante, davor, wie Tristan in Fleischesfron der Vernunft zu entsagen. Zauberinnen lagen immer auf der Lauer, ehrbare christliche Helden zu betören, wie Armida den Rinaldo bei Tasso. In ihrem Liebesreich, einem Lustgarten üppiger Wonnen, in Gesellschaft wollüstiger Najaden und immer eingehüllt in verlockende Musik, vergisst Rinaldo wie Tannhäuser seine irdische Bestimmung, bis er dieser Zeitverschwendung und seines vergeudeten Lebens überdrüssig wird und Armida verlässt. Für Wagners Venusberg und den Lustüberdruss des Tannhäusers, für dessen inneren Zwiespalt und für die Enttäuschung der Venus gab es genug Vorbilder mit oft aufreizend schöner Musik.

Ein Wettbewerb um den würdigsten Lobpreis der Liebe mag tatsächlich auf der Wartburg stattgefunden haben. Doch auch er ist ein hinlänglich vertrautes literarisches Spiel. Der berühmteste Wettstreit unter den vielen Wiederholungen dieser Diskussion über die wahre Kunst der Liebe ist Pietro Bembos Traktat „Asolaner Gespräche“ von 1505. Wagners Tannhäuser, Wolfram und Walter verfechten Positionen, die elegante Cavalieri dort vertraten. Auch Wagners „Lohengrin“ greift Motive aus einer ganz und gar europäischen Tradition auf: Abgesehen von dem Frageverbot, das in unzähligen Geschichten durch alle Epochen Frauen oder Männern auferlegt wird, ist hier die Nähe zu Rossinis „Tancredi“ auffällig, eine Oper, die Wagner selber dirigiert hat und durchaus schätzte. In Voltaires Drama, der Vorlage zu Rossinis Oper, die Goethe ins Deutsche übersetzte, geht es wie im „Lohengrin“ um einen unbekannten Ritter, der einer bedrohten Jungfrau als Beschützer gegen ihre Widersacher beispringt. Auch bei Rossini wird ein Zweikampf als Gottesurteil ausgefochten.

Die Lohengrin-Sagen sind zwar älter als die Geschichten um Tancredi in der Tradition Tassos (dessen Gottfried von Bouillon allerdings ebenfalls mit dem Schwanenritter zusammenhängt). Sie sind aber literarisch bedeutungslos und dramatisch ziemlich unbeholfen. Wagner erklärte es während der Arbeit am „Siegfried“ zu seinem Ziel, das Publikum dahin zu bringen, sich auf diese dramatische Geschichte so einzulassen wie ein Kind auf die Wirklichkeit des Märchens. Deshalb musste er mit vertrauten Erinnerungen spielen, ohne ihnen stets einen neuen Sinn zu geben. Denn ein Kind lässt sich nur unbefangen auf die Wirklichkeit des Märchens ein, weil sie nicht vollständig den Erwartungen widerspricht, die das Kind damit verbindet.

Richard Wagner – Aufregende Neudeutung des Altbekannten

Wagners große Kunst bestand darin, erschöpfte, ausgeschöpfte, ausgepresste Themen, denen auch in Italien keiner mehr traute, in überraschender Umgebung und neuem Kostüm anziehend und aufregend zu machen. Bei Ariost und Tasso etwa und ihrem Renaissancekollegen Matteo Maria Boiardo machen Riesen und Zwerge auf sich aufmerksam, Drachen, die getötet werden müssen von Helden, die das Fürchten nie gelernt haben und Schwerter schwingen, die ihnen, wenn nicht vom Vater, so von geistigen Vätern, Mönchen oder Heiligen verheißen waren. Sie allein sind bestimmt, die wabernde Lohe zu durchbrechen, die einen Wald unzugänglich macht, von dem Rettung und Heil ausgeht, sobald diese Zauberflammen erloschen sind. Statt Walküren mischen sich heldenhaft liebende Amazonen ein, manchmal kommt der Erzengel Michael zu Hilfe, an dessen Schild Schwerter und Speere der Widersacher zerschellen. Tarnkappen sind so selbstverständlich wie der Ring, der außergewöhnliche Macht verleiht. Immer wieder werden Helden in sonderbaren Gärten zum Opfer gar nicht unschuldiger Blumenkinder oder betörender Schönheiten, die den bestrafen, der ihnen widersteht oder den sie vollends umgarnen und vernichten, wenn er sich von ihnen verführen lässt. Aber immer wieder vereinigen sich auch seit Dantes Francesca da Rimini die wahrhaft füreinander Bestimmten im gemeinsamen Liebestod, mit und ohne Zaubertränke.

Richard Wagner ist viel italienischer, als die germanische, altdeutsche oder spanische Maskerade im „Parsifal“ vermuten lässt. „Welschem Tand“ war er überhaupt nicht abgeneigt, er war auf ihn angewiesen, um sich und das allgemein Menschliche seiner Personen so verständlich zu machen, wie es Dante, Ariost und Tasso gelungen war und wie es den beiden Spaniern Cervantes und Calderon gelang, die Wagner sein Leben lang bewunderte.

Info: Wagner, Verdi und Straub

Festspiele
In wenigen Tagen beginnen die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth (bis 28. August) . Zur Eröffnung am Mittwoch, 25. Juli, wird „Der fliegende Holländer“ gegeben, es folgen „Tristan und Isolde“, „Lohengrin“, „Tannhäuser“ und „Parsifal“. Den „Ring des Nibelungen“ gibt es – neu inszeniert von Frank Casdorf (musikalische Leitung: Kirill Petrenko) – erst wieder im kommenden Jubiläumsjahr.

Doppeljubiläum
2013 jähren sich die Geburtstage von Richard Wagner und Giuseppe Verdi zum zweihundertsten Mal. Die beiden Komponisten, gemeinhin als deutsch-italienische Antipoden gesehen, eint mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte – nicht nur ihre Bedeutung für das kollektive Selbstbewusstsein zweier verspäteter Nationen.

Neuerscheinung
Beiden Jubilaren hat Eberhard Straub sein neues Buch, Doppelbiografie und Jahrhundertporträt gleichermaßen, gewidmet: „Wagner und Verdi – Zwei Europäer im 19. Jahrhundert“. Es erscheint voraussichtlich im Oktober im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta.

Autor
Der Historiker Eberhard Straub war Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Stuttgarter Zeitung. Er lebt als freier Publizist in Berlin.