Am Ende eines nervenzehrenden Tages bietet Horst Seehofer den Rücktritt von seinen Ämtern an. Was heißt das nun für den Asylstreit, die Partnerschaft mit der CDU und die Koalition in Berlin? Szenen eines Politdramas, wie es die Republik noch nicht erlebt hat.

Berlin/München - Die Bombe platzt etwa um zwanzig vor Elf. In der Parteizentrale der CSU schauen sie alle das Elfmeterschießen zwischen Dänemark und Kroatien – nur die hundert Vorstandsmitglieder der CSU nicht und die Bundestagsabgeordneten auch nicht. Sie sitzen seit fast acht Stunden zur Krisensitzung zusammen, und jetzt hören sie live, was sich der Parteichef als „persönliche Erklärung“ für den Schluss aufgespart hat: Er will zurücktreten, sagt er. Und gleich doppelt: als Bundesinnenminister und als Parteivorsitzender.

 

Im ersten Augenblick wird nicht klar, was der CSU-Vorstand von dieser Ansage hält. Nimmt er den Rücktritt an? Lehnt er ab? Die ganzen Stunden zuvor hat es geheißen, alle stünden voll auf Seiten Seehofers, sie spendeten ihm reichlich Applaus für sein Hartbleiben im Streit mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über den „Masterplan Migration“ und die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze.

Seehofer hat die Schwesterpartei nicht aushebeln können

Kurz nach der Rücktrittsmeldung kommt kommt die nächste SMS aus dem Saal: Sitzung unterbrochen. Und was jetzt? Landesgruppenchef Alexander Dobrindt lehne den Rücktritt Seehofers ab, heißt es kurz darauf. Von außen sieht man Seehofer den Saal verlassen. Mit Generalsekretär Markus Blume, Fraktionschef Thomas Kreuzer und Landesgruppenchef Alexander Dobrindt steigt er die Treppen in eine höhere Etage der CSU-Zentrale hoch. Zurück bleibt der verdutzte Vorstand – zur Beratung. Und vielleicht war der Zeitpunkt ja gar kein Zufall: Kurz zuvor hatte bei der Schwesterpartei, der CSU in Berlin, die Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer für „in Kürze“ eine Stellungnahme angekündigt.

Schon einmal haben Angela Merkel und Horst Seehofer, die beiden Parteichefs, gleichzeitige Pressekonferenzen abgehalten – wenn auch in 500 Kilometer Distanz voneinander. Und jetzt wird Kramp-Karrenbauer ankündigen, dass sich die CDU um Merkel schart. Für CSU-Chef Seehofer ein mehr als deutliches Signal: Er hat es nicht geschafft, die Schwesterpartei auszuhebeln. Er hat verloren.

Ist der Asylstreit nun zu Ende? Und was heißt das für für die Partnerschaft mit der CDU und die Koalition in Berlin? Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe bleibt die Antwort offen.

Eines wenigstens lässt sich auf den ersten Blick sagen: Es ist viel Cholesterin im Spiel. Brotzeit-Platten stehen auf dem Tisch beim CSU-Vorstand, da häufen sich Wurst und Käse und Butterbrezen zu Bergen. Dass an diesem Sonntagnachmittag noch andere Leckerbissen aufgetischt werden, das sickert gleich zu Sitzungsbeginn nach außen. Horst Seehofer hat seinen etwa hundert Vorständlern und den Bundestagsabgeordneten der CSU seinen „Masterplan“ zum Thema Asyl austeilen lassen. Gilt etwa das Verbot nicht mehr, mit dem Angela Merkel Mitte Juni die Bekanntgabe unterbunden hat? Egal. Endlich wissen nun alle in der CSU (anders als in der CDU), was da von Punkt 1 bis 63 drinsteht.

Wirkungsgleich oder nicht – das ist die zum Prinzip erhobene Frage

Vieles spricht dafür, dass auch die CSU-Leute zu Beginn der entscheidenden Vorstandssitzung nicht wissen, wie das Ganze enden wird. Was hat Seehofer mit Merkel besprochen am Abend zuvor? Wie fällt die Fein-Analyse der Brüsseler Absprachen und der von Merkel behaupteten Kooperationsversprechen von 14 europäischen Staaten aus? Was bedeutet das greifbar für Bayern? Und vor allen Dingen – CSU-Generalsekretär Markus Blume hat diese entscheidende Frage formuliert: Werden Ergebnisse tatsächlich so kurzfristig eintreten, dass man sie im Wahlkampf zu eigenen Gunsten verwenden kann?

Es dauert nicht lange, da sickern andere Informationen auf die Handys von Journalisten. Seehofer sagt, was Merkel in Brüssel erreicht habe, sei „nicht wirkungsgleich“ mit den Kontrollen und den Zurückweisungen direkt an der Grenze, die er selber plant. „Wirkungsgleich“, das war die Bedingung, die man Merkel im zweiwöchigen Ultimatum genannt hatte. „Mehr als wirkungsgleich“, hatte Merkel nach dem EU-Gipfel gesagt, sei ihr Verhandlungsergebnis. Und noch am Nachmittag, bei der Aufzeichnung des Interviews für die ZDF-Sendung „Berlin direkt“, streute sie das Zauberwort ein: mission completed.Doch Seehofer bläst das alles in den Wind. Auch deutsche Ankerzentren lehnt er ab, jedenfalls für Flüchtlinge oder Migranten, die schon in anderen europäischen Ländern registriert sind. Immerhin hat Merkel im Grundsatz zum ersten Mal „Ja“ gesagt zu Ankerzentren; das hat man in der CSU am Sonntag durchaus positiv registriert.

Oettinger stellt sich demonstrativ hinter die Kanzlerin

Nicht auszuschließen, dass der Parteichef selber erst einmal Rat braucht: Wie kommt die CSU raus aus einer Situation, die durch Merkels Verhandlungsgeschick auf dem EU-Gipfel viel komplizierter geworden ist als von den Bayern erwartet? Denn dass sie überrascht waren, dass mehr, viel mehr herausgekommen ist als je gedacht; dass einer – der immer noch einflussreiche Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber – gar schon die von der Partei geforderte „Wende“ bei der Zuwanderungsfrage erreicht sieht: das geben sie zu.

In der CDU stellen sich Präsidium und Bundesvorstand sich hinter ihre Vorsitzende. „Die Parteigremien stehen in dieser Frage voll hinter Angela Merkel“, sagt auch der aus Brüssel angereiste EU-Kommissar Günther Oettinger. Verbunden wird das mit der Konkretisierung, dass die bilateralen Rücküberstellungsabkommen mit einem guten Dutzend EU-Staaten innerhalb eines halben Jahres abgeschlossen sein sollen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier sagt, es gehe um nicht weniger als „das Ansehen das Landes, die Handlungsfähigkeit und die Regierungsfähigkeit“.