Herr Pofalla, die Bahn baut derzeit reichlich im Südwesten: Rheintalbahn, Stuttgart 21, Neubaustrecke nach Ulm und die Elektrifizierung der Südbahn. Nun werben Sie mit Nachdruck für die Ausstattung des Stuttgarter Bahnknotens mit ETCS. Gibt es anderswo in der Republik keine Begehrlichkeiten?
Natürlich gibt’s die. Nicht zuletzt aufgrund der jetzt anstehenden Verhandlung zur Vergabe der Investitionsmittel bis 2025. Dass Stuttgart Pilotprojekt für den ersten digitalen Bahnknoten wird, ist daher kein Selbstläufer. Aber nirgendwo wird derart aufwendig wie in Stuttgart an einer neuen Infrastruktur gearbeitet. Wir wollen doch nicht 2025 einen neuen Knoten in Betrieb nehmen, um dann in den Jahren bis 2030 die Digitalisierung des Bahnverkehrs aufwendig nachzuholen. Es ist also absolut sinnvoll, diesen Schritt gleich jetzt mit einzubeziehen.
Das Landeskabinett hat vergangene Woche einen Beschluss gefasst, das ETCS-Projekt auch finanziell zu unterstützen. Reicht das als politischer Rückenwind?
Ich bin dankbar, dass wir dabei mit allen Projektpartnern immer ein Einvernehmen haben erzielen können. Das und auch andere Maßnahmen wie etwa der Ausbau der Großen Wendlinger Kurve sind Ergebnis einer vernunftorientierten inhaltlichen Abstimmung. Wir versuchen alle zusammen, die Dinge zu forcieren.
Einvernehmen zu erzielen ist das eine, bezahlen das andere. Welche Summen könnten auf Land, Stadt und Region zukommen?
Bei der Ausrüstung der Infrastruktur des neuen Bahnknotens mit digitaler Leit- und Sicherungstechnik reden wir über 300 Millionen Euro. Nach den üblichen Finanzierungsregularien ist der Bund dafür zuständig.
Das Land hat aber auch bekräftigt, dass es bei der Fahrzeugausrüstung, die eine ähnliche Größenordnung umfasst, eine spürbare Beteiligung des Bundes erwartet. Glauben Sie, dass der Finanzminister das genauso sieht?
Mit dem Bund reden wir gerade sehr intensiv über die Fahrzeugumrüstung. Das betrifft aber nicht nur die Region Stuttgart. Weil es unsinnig wäre, nur die Infrastruktur ETCS-fähig zu machen, aber nicht die Züge. Nun hat es aber erstmals Hinweise gegeben, dass der Bund das ähnlich sieht und sich eine Mitfinanzierung vorstellen kann. Ich bin verhalten optimistisch.
ETCS ist heute Stand der Technik. Warum also noch sieben Jahre warten und es erst 2025 in einem Knoten einsetzen?
Diese Debatte wird in der Tat geführt. Ich habe nahezu aus allen großen Ballungsräumen Bewerbungen vorliegen, die Infrastruktur vor Ort mit ETCS auszurüsten. Wir haben aber Stand heute noch keine Elemente, die wir systematisch verbauen können. Dort, wo es heute schon ETCS gibt, ist das eine Manufakturleistung. Die passt genau in dem Streckenabschnitt, in dem sie eingesetzt wird, ist aber nicht mit einer anderen Strecke kompatibel. Wir arbeiten gerade sehr intensiv daran, dies zu ändern, damit wir die Vorteile von ETCS möglichst schnell auf vielen Strecken nutzen können. Unser Ziel ist es deshalb, schon Anfang der 20er Jahre Systemkomponenten für Fahrzeuge und Strecken zu haben.
Der Nutzen eines Pilotprojekts in Stuttgart bestünde demnach nicht nur aus den direkten Auswirkungen vor Ort, sondern auch aus einer Standardisierung des Systems?
Genauso ist es. Deswegen müssen wir uns in der Diskussion von der aktuellen Baustelle in der Stadt gedanklich trennen. Wir können in Stuttgart die Startbasis für die Digitalisierung des Netzes in ganz Deutschland schaffen.
Wäre es nicht vorrangig, das Netz der klassischen Infrastruktur wie Tunnel und Brücken erst mal wieder instand zu setzen, ehe man über die Digitalisierung spricht?
Wir tun ja beides. Allein in diesem Jahr werden neun Milliarden Euro ins Netz investiert. Der größte Teil davon fließt in das bestehende Netz und die Instandhaltung. Das werden wir weiter tun. Die Digitalisierung kommt oben drauf. Deshalb verhandeln wir mit der Bundesregierung, dies als Zusatzkomponente zu verstehen. Das darf nicht dazu führen, dass die vom Bund bereitgestellten Investitionsmittel für das bestehende Netz sowie Neu- und Ausbauprojekte reduziert werden.
Die Überzeugungsarbeit beim Bund darf sich nicht zu lange ziehen. Die Region Stuttgart muss die nächsten S-Bahn-Züge bis Ende Januar bestellen. Läuft Ihnen die Zeit davon?
Ich bin mit Regionalpräsident Bopp im Gespräch, dass zunächst einmal die wichtige Unbedenklichkeitsbescheinigung aus dem Bundesverkehrsministerium kommt, damit die Region die Bestellung platzieren kann. Aber die Bescheinigung muss eben vom Bund kommen. Die eigentliche Finanzierungsfrage wird im Lauf des Jahres 2019 zu klären sein.
Streben Sie an, mit der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 im Jahr 2025 den gesamten Knoten ETCS-fähig zu haben, oder geht die Bauerei weiter?
Nein, bis dahin wollen wir den Knoten und die Stammstrecke der S-Bahn digitalisiert haben. Der Einbau passiert parallel zu den S-21-Baustellen. Da kommt auf die Anrainer keine zusätzliche Belastung zu.
Es geistern immer wieder unterschiedliche Zahlen durch die Diskussion. Wie hoch ist aus Ihrer Sicht der Kapazitätszuwachs, den Sie sich erhoffen?
Wir werden nun ETCS Level 2 verbauen. Da gehen wir bundesweit von einem Kapazitätszugewinn von bis zu 20 Prozent aus. Das Gutachten für die S-Bahn, das wir zusammen mit Stadt und Region haben erstellen lassen, sagt eine Steigerung von rund zehn Prozent voraus. Das ist eine durchaus konservative Einschätzung. Unsere Fachleute sehen hier weitere Potenziale. Wenn Sie aber den Bogen zu Level 3 schlagen, reden wir noch mal von einer Kapazitätssteigerung von weiteren 15 Prozent. Dieser Sprung erfolgt dann über eine reine Programmierung. Da muss nichts mehr gebaut werden.
Bislang kommt die Technik nur auf Fernverkehrsstrecken zum Einsatz. Woraus speist sich Ihre Hoffnung, dass das auch im Regional- und S-Bahnverkehr funktioniert?
Zwischen Nürnberg und Coburg fahren wir heute schon Regionalverkehr, der ETCS-gesteuert ist. In Madrid und in London ist das System auch im S-Bahnbereich im Einsatz. Es gibt also Erfahrungswerte. Und wir selber bauen derzeit an einer 23 Kilometer langen Pilotstrecke im Hamburger S- Bahn-Netz, die 2021 in Betrieb geht. Bevor wir also in Stuttgart mit dem Einbau beginnen, können wir in Hamburg die Systeme testen.
Der Chef der Schweizer Lokführergewerkschaft erklärt, ETCS bringe zwar einen Zugewinn an Sicherheit, nicht aber einen Kapazitätszuwachs…
In der Schweiz kommt überwiegend Level 1 zum Einsatz, nur rund zehn Prozent des Netzes werden mit Level 2 betrieben. Der Nutzen von ETCS hängt immer von mehreren Randbedingungen ab. Ein Gutachten hat den Nutzen von ETCS für den konkreten Anwendungsfall der S-Bahn Stuttgart untersucht und bestätigt uns Leistungssteigerung und Kapazitätszuwachs.
In Sachen ETCS ziehen die S-21-Projektpartner an einem Strang. Gleichzeitig werden immer wieder aus deren Reihen auch Forderungen nach Erweiterungen wie dem Nordkreuz oder weiteren Gleisen nach Zuffenhausen laut. Wie realistisch ist das?
Ich lege Wert auf den Finanzierungsvertrag, den wir geschlossen haben. Stuttgart ist unsere größte Baustelle in ganz Deutschland. Mit dem, was da entsteht, können wir das fahren, was im Rahmen des Stresstestes untersucht worden ist. Darauf sollten sich alle Projektbeteiligten konzentrieren. Für Zusatzwünsche habe ich immer Verständnis, aber das muss dann auch mit Zusatzfinanzierungen verbunden sein, und die sehe ich derzeit nicht.
Ehe ETCS zum Einsatz kommt, muss erst mal S 21 in Betrieb gehen. Dem Weiterbau am Flughafen hat der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof am Dienstag zunächst einen Riegel vorgeschoben. Führt das zu weiteren Verzögerungen?
Was mir bislang vom Gericht vorliegt, begründet sehr deutlich, dass der Teil, der die Bahn betrifft, für rechtmäßig angesehen wird. Da haben unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine aus Sicht des Gerichts nicht zu beanstandende Planung vorgelegt. Nach meinem derzeitigen Kenntnisstand wird sich daher unser Zeitplan nicht verändern.
Kritiker sehen in der ETCS-Idee den Versuch, die aus ihrer Sicht mangelhafte Kapazität von S 21 doch noch hinzubiegen. Und das zu einem stolzen Preis.
Selbst, wenn wir ETCS nicht verbauen würden, könnten wir fahrplanerisch alle Verkehre fahren, die wir in der Finanzierungsvereinbarung vereinbart haben. Mit ETCS können wir noch deutlich darüber hinaus gehen. Der Effekt für die Region wäre enorm. Und deswegen arbeite ich hart daran, dass das gelingt.