In der Stuttgarter Oper wird vor dem letzten Jahr der Ära von Jossi Wieler als Intendant langsam auch die Übergabe vorbereitet an Viktor Schoner, der aus München kommt. Was den Standort wegen des Umbaus anbetrifft, steht die Zukunft aber weiterhin in den Sternen.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - So gut man auch sieht von der Parkettmitte der Stuttgarter Oper aus: alles sieht man nicht. Zum Beispiel ein eigentlich entscheidendes oder zumindest stilprägendes Detail in der Inszenierung von Georg Friedrich Händels „Ariodante“ durch Jossi Wieler und Sergio Morabito. Erst vom zweiten Rang herunter und in einer der Premiere nicht viel nachstehenden, hervorragenden Repertoirevorstellung erschließt sich das Ganze: hinter einem Paravent nämlich ziehen sich, wie man von weiter oben erkennen kann, die Darsteller hier diskret um, wechseln das Outfit und nehmen eine andere Gestalt an. Denn darum geht es in dieser Oper, die am Ende vielleicht zum Besten gehört, was in Stuttgart während dieser Saison geboten worden ist. Entscheidend ist, wer sich wie präsentiert. Entscheidend aber auch: der Schein trügt mitunter. Denn darum ging esr: um Identitätsfragen, damals und heute. Unverzwungen und einleuchtend verhandelt. Mitreißend.

 

Optisch steht die Bühnengarderobe, wenn man so will, für ein Hauptprinzip der Stuttgarter Dramaturgie: im Idealfall arbeiten demnach alle mit allen an einer Inszenierung, sind also nicht zwischendurch suspendiert und sitzen, auf den nächsten Auftritt wartend, allein für sich. Beteiligung ist nicht nur auf den eigenen Einsatz beschränkt. Dass aus einer solchen Konstruktion ein echtes Kollektiv zusammenwachsen kann, ja, muss, war, unter anderem, in „Ariodante“ zu spüren, wo am Schluss die kleineren Rollen hinter den Hauptpartien von Diana Haller und Ana Durlovski nicht verblassten, was aber auch nicht wenig am Dirigenten Giuliano Carella lag, dem mit dem Staatsorchester eine Art Quadratur des Kreises gelang. Mehr an Originalklang kann man aus einem Ensemble, das kein Originalklangensemble ist und keines sein soll, schwerlich herausholen.

Somit gehörte „Ariodante“ zu den „großen Drei“, die der Spielplan bereit hielt, nachdem die Stuttgarter Oper im Sommer vor einem Jahr in der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Opernwelt“ wieder einmal als „Opernhaus des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Optisch hatte das Theater darauf reagiert, als die Würdigung noch gar nicht publik war. Auf den Plakaten, die zum Ende der vorvergangenen Spielzeit öffentlich zu sehen waren, erhob sich die Staatsoper, von einem Ballon empor getragen, unübersehbar in die Luft, und das beförderte Personal war, begreiflicherweise, bester Laune, die dann im Prinzip die ganze Saison angehalten hat und selbst die Offenbach-Premiere von „Orpheus in der Unterwelt“ überstand, die der Schauspieldirektor Armin Petras im Dezember als großen, aber auch gähnenden Klamauk anlegte. Besser erging es, relativ gesehen, dem Ballettkollegen Demis Volpi, dessen Inszenierung von Benjamin Brittens „Death in Venice“ sich Einiges an Vordergründigkeit leisten konnte, weil sie in Matthias Klink über einen Hauptdarsteller verfügte, über dessen erhabene Verkörperung sich dann das Meiste definierte.

Begonnen hatte die Saison indes mit einer Regiearbeit, in der es dermaßen dampfte, brodelte und zischte, dass man öfter befürchten mochte, das Haus werde mit den Sanierungsarbeiten gleich nach dem Schlussakkord hier beginnen müssen: Frank Castorf puzzelte sich Charles Gounods „Faust“ vor der Pariser Metrostation Stalingrad entschieden als Stück aus dem 20. Jahrhundert zurecht, als er die Faust-Handlung mit dem Algerien-Krieg, aber auch mit der Zeit der Pariser Commune verschnitt. Das wollte in Stuttgart jeder sehen, und es blieb keine Karte unverkauft. Marc Soustrot dirigierte, direkt elektrisierend, ein brillantes Staatsorchester und Sängerdarsteller wie Adam Palka (Mephistopheles), Mandy Fredrich (Margarethe) und Iris Vermillion (Marthe).

Castorfs wild und gewaltig wuchernden Assoziationen wiederum korrespondierte gegen Ende der Spielzeit die „Pique Dame“-Fassung von Jossi Wieler und Sergio Morabito, mit der dann auch die letzte Spielzeit der bisherigen Operndirektion im September wiedereröffnet wird. Die beiden Regisseure lasen, nach einer längeren Besichtigung des heutigen St. Petersburg vor Ort, zusammen mit der Bühnenbildnerin Anna Viebrock, das Sujet von Tschaikowski eindeutig durch die Dostojewski-Brille: mit entsprechend trüben Aussichten aufs Soziale.

Dass der letzte Jahrgang der Wieler-Intendanz einer werden würde, der das Wort „Ausklang“ nahelegt, wird keiner ernstlich erwartet haben, und natürlich ist das Gegenteil der Fall. Hochambitioniert ist nicht nur der Auftakt der der nächsten Saison geplant (mit Kirill Serebrennikovs „Afrika“-Version von „Hänsel und Gretel“), sondern die ganze Spielzeit: mit Peter Konwitschnys Einrichtung von Cherubinis „Medea“, einem weiteren Gastspiel von Andrea Breth, dem „Don Pasquale“ von Wieler/Morabito und schließlich auch noch einer Uraufführung. Derweil arbeitet der neue Intendant im Haus, Viktor Schoner, zuständig von Sommer 2018 an, bereits parallel an einem Schreibtisch in der Oper und sieht sich im Augenblick mehr Fragezeichen denn je gegenüber. Dass er einmal neben einer Großbaustelle arbeiten würde, war ihm bewusst, als er den Job übernahm. Allerdings weiß Schoner immer noch nicht, wie weit weg sein Interimstheater vom jetzigen Standort sein wird. Wo wird er spielen lassen können? Überm Neckar beim Daimler? Im Paketpostamt? Am Eckensee, gleich nebendran? Jossi Wieler wird auf in jeder Hinsicht vertrautem Terrain aufhören, Schoner auf unvertrauten Gelände beginnen müssen. Die Zukunft der Stuttgarter Oper ist, sagen wir mal: offen. (Die Analyse der Ballettspielzeit stand in der gestrigen Ausgabe. Morgen folgt ein Resümmee der Saison im stuttgarter Schauspiel).