Psychologen wollen schmerzgeplagte Patienten dazu bringen, sich mehr zuzutrauen – und wieder mehr zu bewegen. Denn sich bei Rückenschmerzen zu sehr zu schonen, ist oft genau der falsche Ansatz.

Marburg - Tom König (Name geändert) schwitzt, sein Gesicht ist errötet. Er schaut geradeaus, friert seine Mimik ein. Bloß nichts anmerken lassen! Mit langsamen, aber sicheren Schritten nimmt er Stufe um Stufe hoch in den dritten Stock des alten Universitätsgebäudes. Sein rechter Arm umklammert einen Karton mit Druckerpapier. Eigentlich wollte er das nicht machen, wollte nur einen leichten Koffer nach oben tragen. Aber Sebastian Holzapfel, sein Psychotherapeut, hat ihm Mut gemacht. „Warum glauben Sie, Sie schaffen das nicht?“, hatte er gefragt.

 

König hatte Angst, wegen seiner Rückenschmerzen. Schließlich ließ er sich doch überzeugen. „Ich kann es ja mal probieren.“ Oben angekommen stellt König das Papier ab und lächelt. „Jetzt bin ich schon ein wenig stolz“, sagt er. Ja, er spüre die Schmerzen, aber komme schon klar. „Schön, das ging doch echt gut“, bestärkt ihn Holzapfel. Er ist zufrieden, das Ziel der Sitzung hat sein Patient erreicht.

Tom Königs Weg in den dritten Stock ist Teil einer Studie der Universität Marburg. Psychologen testen hier an hundert Patienten die Wirksamkeit einer speziellen Form der Verhaltenstherapie gegen chronische Rückenschmerzen. Die ständigen Schmerzen im Kreuz gelten als Volkskrankheit: Etwa 21 Prozent der Frauen und 15 Prozent der Männer in Deutschland gaben bei einer Befragung des Robert-Koch-Instituts in Berlin an, darunter zu leiden.

Die Zwischenbilanz ist positiv: den Probanden geht es besser

Die Marburger Forscher wollen den Patienten die Angst vor der Bewegung nehmen, die sich bei vielen über die Jahre eingeschliffen hat. Die Betroffenen verzichten auf das Fahrrad, auf Langstreckenflüge oder darauf, den Einkauf nach Hause zu tragen. Manche, wie König, verlieren zudem ihren Job, bekommen finanzielle Probleme. Außerdem degenerieren die Muskeln, die eigentlich das Leiden lindern könnten, wenn sie kräftig wären. Eigentlich sollen Schmerzen vor drohenden Verletzungen zu warnen. Wenn sie chronisch werden, büßen sie diese Funktion ein.

Tom König ist ein bulliger Mann. Er sieht kräftig aus, ist tätowiert, jahrelang hat er auf dem Bau geschuftet. „Ich bin ein Handwerkertyp“, sagt er über sich. Seit 15 Jahren plagen ihn Rückenschmerzen, sie seien sein „ständiger Begleiter“, sagt er. Die Angst vor dem Schmerz bestimmt seinen Alltag, diktiert ihm, was er tun kann und was nicht. König hat sich ihr längst gebeugt, schränkt sich ein. Ohne Schmerzmittel kann er nicht schlafen. Die Sitzungen mit Sebastian Holzapfel sollen ihm helfen, aus diesem Kreislauf auszubrechen.

Die Wirksamkeit von Psychotherapie bei chronischen Rückenschmerzen ist mittlerweile gut belegt. Mehrere Studien zeigen, dass es den meisten Patienten danach deutlich besser geht. Sie spüren die Schmerzen weniger stark, sind mit ihrem Leben zufriedener und können wieder Dinge tun, auf die sie jahrelang verzichteten. In einer britischen Studie, die 2010 in der Fachzeitschrift „Lancet“ veröffentlicht wurde, erhielten zum Beispiel rund 600 Patienten entweder sechs Gruppensitzungen Verhaltenstherapie oder eine gewöhnliche Beratung. Bei 60 Prozent der therapierten Teilnehmer haben sich die Beschwerden langfristig gebessert, während das in der Beratungsgruppe nur bei 30 Prozent der Fall war. Auch in Marburg lässt sich vorläufig ein positives Fazit ziehen: 80 Prozent der bisher behandelten Probanden würden nach der 15-stündigen Kurztherapie von einer deutlichen Verbesserung berichten, sagt die Studienleiterin Julia Glombiewski.

Psychische Faktoren sind oft wichtiger als körperliche

Obwohl Psychotherapie wirksam, günstig und risikolos sei, werde sie in Deutschland zu selten und wenn, dann meist zu spät gegen chronische Rückenschmerzen verschrieben, sagt der Münchner Orthopäde Martin Marianowicz. Betroffene würden jahrelang von Arzt zu Arzt geschickt, die zu wenig mit ihnen reden und zu oft operieren. „Dabei sind aus medizinischer Sicht psychosoziale Faktoren bei chronischen Schmerzen bedeutsamer als körperliche“, sagt er. Oft ließen sich den Schmerzen keine organischen Ursachen zuordnen, Patienten mit nahezu identischer Physiologie würden unterschiedlich stark leiden.

„Die Psychotherapie muss also schon in der Arztpraxis beginnen“, sagt Marianowicz. Dem Patienten zuhören, seine Bewegungsgewohnheiten und die genaue Leidensgeschichte erfragen – das sei für ihn das wichtigste diagnostische Werkzeug. Viele Kollegen verließen sich zu sehr auf ihre Geräte, welche die wahren Ursachen des Schmerzes aber oft nicht finden könnten, sagt er. „Leider werden wir dafür auch besser bezahlt, obwohl Bilder eine nur sehr eingeschränkte Aussagekraft haben.“ Der falsche Umgang mit dem Schmerz beginnt bei manchem schon in der Kindheit. „Der familiäre Hintergrund hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Schmerzbewältigung. Kinder erlernen dort die Strategien, die sie auch im Erwachsenenalter anwenden“, sagt Marianowicz. Beispielsweise leben manche Eltern ihrem Nachwuchs vor, bei Schmerzen viel zu klagen oder sich übermäßig zu schonen. Bei solchen scheinbar unproblematischen Gewohnheiten müsse man ansetzen – und sie dem Patienten überhaupt erst bewusstmachen.

Es gibt sogar Studien, die einen Zusammenhang zwischen positiven Bindungserfahrungen in der Kindheit und einem geringeren Schmerzempfinden belegen, sagt Marcus Schiltenwolf, Leiter des Fachbereichs Schmerztherapie an der Uniklinik Heidelberg. „Schmerzen können viele Ursachen haben, auch psychische. Wichtig ist, dass Betroffene lernen, richtig mit ihnen umzugehen“, sagt der Orthopäde.

Fahrradfahren? „Das habe ich jahrelang nicht gemacht“

Doch die meisten Patienten kämen gar nicht auf die Idee, mit ihren Schmerzen zum Psychotherapeuten zu gehen, sagt die Marburger Psychologin Glombiewski. Viele Betroffene hätten aus Angst vor den drohenden Schmerzen Tätigkeiten aufgegeben, die ihnen wichtig sind: Sport oder das geliebte Hobby. In der Therapie gehe es darum, dieses Schonverhalten zu mindern, den Patienten durch eine Konfrontation mit ihrer Angst zu zeigen, dass sie mehr können, als sie glauben. „Konträr zur Angst gehen die Schmerzen daraufhin meist zurück“, sagt Glombiewski. Außerdem verbessere sich die Stimmung der Betroffenen. Es nage am Selbstbewusstsein, nicht mehr Herr des Alltags zu sein, Depressionen seien nicht selten die Folge. „Depressive Patienten spüren den Schmerz wiederum stärker.“ Ein Teufelskreis beginnt.

Für Tom König hat sich die Therapie ausgezahlt. „Früher habe ich schneller aufgegeben“, sagt er. Seit vier Wochen fährt er zum Beispiel wieder Fahrrad. „Das habe ich jahrelang nicht gemacht.“