Recep Tayyip Erdogan regiert die Türkei schon jetzt quasi im Alleingang. Seine Macht baut er aber noch weiter aus und beseitigt so die Errungenschaften des Staatsgründers.

Ankara - Es war eine ganz normale Woche in der Türkei: Massenentlassungen, Verhaftungen, Verbote von Medien und Vereinen. Über 15 000 Staatsdiener wurden gefeuert, 550 Institute, Stiftungen, Verbände und Nichtregierungsorganisationen geschlossen, darunter eine Organisation, die für Kinderrechte eintritt, und ein Anwaltsverein, der Opfern von Menschenrechtsverletzungen kostenlos rechtlichen Beistand leistet. All das geschah nicht etwa auf Beschluss eines Gerichts, sondern es wurde verfügt mit einem Federstrich von Staatschef Recep Tayyip Erdogan.

 

Er regiert das Land unter dem Ausnahmezustand mit Dekreten praktisch im Alleingang. Seit dem gescheiterten Staatsstreich vom Juli rollt eine beispiellose Säuberungswelle durch das Land. Der aktuelle Stand, dokumentiert von der Internetseite „Turkey Purge“: 115 094 Staatsdiener entlassen oder suspendiert, darunter 3843 Richter und Staatsanwälte, 6377 Hochschullehrer gefeuert, 78 214 Menschen festgenommen, 37 011 in Untersuchungshaft, 195 Medien verboten. Und das ist erst der Anfang. Gnadenlos geht Erdogan gegen mutmaßliche Anhänger seines früheren Verbündeten und heutigen Widersachers Fethullah Gülen vor, den er als Drahtzieher des gescheiterten Coups sieht. „Wir wissen, dass der Staat von dieser Verräterbande noch nicht vollkommen gesäubert wurde“, sagte Erdogan diese Woche und bekräftigte: „Der Kampf wird fortgesetzt, bis der letzte Terrorist eliminiert ist.“

Künftig will Erdogan die Hälfte der obersten Richter selbst berufen

Als ein „Geschenk Allahs“ hatte Erdogan den niedergeschlagenen Aufstand bereits am Morgen danach bezeichnet – weil er ihm den Anlass biete, Streitkräfte und Staatsapparat zu „reinigen“. Inzwischen wird immer deutlicher: Aus dem gescheiterten Coup ist Erdogans schleichender Staatsstreich geworden. „Yeni Türkiye“, eine neue Türkei, hatte Erdogan seinen Landsleuten vor den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr versprochen. Jetzt werden die Konturen klar. Die Türkei steht vor einer historischen Weichenstellung: Voraussichtlich im Januar soll das Parlament über eine Verfassungsänderung und die Einführung eines Präsidialsystems abstimmen. Es soll Erdogan jene Kompetenzen auf Dauer sichern, die er sich unter dem Ausnahmezustand bereits genommen hat – und noch mehr. So ernennt der Staatschef bereits nach Gutdünken die Rektoren der Universitäten; künftig soll er auch die Hälfte der obersten Richter berufen. Das Amt des Premierministers wird gestrichen, seine Befugnisse gehen auf den Staatspräsidenten über.

Das Parlament wird zur Staffage. Einmal gewählt, ist der Staatschef praktisch unantastbar. Für Gesetzesverstöße kann er nur belangt werden, wenn die Nationalversammlung mit Dreiviertelmehrheit zustimmt. Lange schienen Erdogans Pläne zum Scheitern verurteilt, weil seine islamisch-konservative AKP nicht über die notwendige Mehrheit verfügte. Außer den eigenen 316 Stimmen braucht die Regierung im Parlament mindestens weitere 14 Stimmen aus den Reihen der Opposition, um die Verfassungsänderung zu verabschieden und zur Volksabstimmung zu stellen. Diese Mehrheit ist nun gesichert: Erdogan gewann die Unterstützung der ultrarechten MHP, der berüchtigten „Grauen Wölfe“. MHP-Chef Devlet Bahceli sagte diese Woche, Erdogans Pläne für ein Präsidialsystem seien „vernünftig“. Mit der geplanten Verfassungsänderung geht die Ära des Staatsgründers Mustafa Kemal, genannt Atatürk, „Vater der Türken“, zu Ende. Erdogan ist der neue Türkenvater.

Edzard Reuter fühlt sich an die Nazi-Zeit erinnert

Er baut das Land um – von einer parlamentarischen Demokratie zu einer Diktatur. Die neue Verfassung wird ihm eine Machtfülle geben, wie man sie nur von lateinamerikanischen oder mittelasiatischen Despoten kennt. Den früheren Daimler-Chef Edzard Reuter, Sohn einer vor Hitler in die Türkei geflohenen Familie, erinnert die Entwicklung in der Türkei „an die Anfänge der Nazizeit“. Erdogans Machtergreifung folgt einem Plan. Schon Ende der 1990er Jahre hatte er aus einem religiösen Gedicht zitiert: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“ Lange ist Erdogan mitgefahren, hat sich als demokratischer Reformer ausgegeben und die Unterstützung der EU genutzt, um die politische Macht der Militärs zu brechen, seiner gefährlichsten Gegner. Erdogan wurde schon oft politisch totgesagt. Aber der im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa als Sohn eines Seemanns aufgewachsene Erdogan ist ein Kämpfer.

Eine Verurteilung wegen islamistischer Hetze 1998 und ein politisches Berufsverbot überstand er ebenso wie die Massenproteste vom Sommer 2013 und die wenig später aufgekommenen Korruptionsvorwürfe. Mit dem erfolgreich niedergeschlagenen Putsch vom Juli ist er am Ziel – und steigt aus dem Demokratie-Zug aus. Am Donnerstag sprach sich das EU-Parlament mit großer Mehrheit dafür aus, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren. Erdogan hatte die Abstimmung zwar schon vorab als „bedeutungslos“ abgetan, zeigte sich dann aber doch gereizt: Wenn die EU „noch weiter“ gehe, werde er die Grenzen öffnen und Millionen Flüchtlinge nach Europa schicken, drohte der Staatschef jetzt. Der Beschluss des Europaparlaments ist zwar nicht bindend, aber doch ein starkes politisches Signal.

Treibt Erdogan die Wiedereinführung der Todesstrafe voran, die sein neuer Partner MHP fordert, kämen die EU-Staats- und Regierungschefs nicht umhin, die Gespräche abzubrechen. Erdogan würde ein Abbruch der Verhandlungen kaum schrecken, sondern sogar in die Hände spielen. Er will Europa den Rücken kehren und sein Land in die „Shanghai Fünf“ führen, einer Staatengruppe, der unter Führung Russlands und Chinas mehrere mittelasiatische Länder angehören. In dieser Organisation könne die Türkei „freier agieren“ als in  der EU, sagte Erdogan. Kremlchef Wladimir Putin habe ihm bereits signalisiert, die Türkei sei in dem Bund willkommen. Putin ist Erdogans neuer Freund. Doch im Westen isoliert der türkische Präsident sein Land immer mehr. Bei den Nachbarn der Türkei wächst die Angst vor seiner aggressiven Außenpolitik. In Nordsyrien und dem Nordirak hat die Türkei mit dem Einmarsch ihrer Truppen bereits Fakten geschaffen.

Werden die Grenzen neu gezogen?

Diese Woche warnte Erdogan, der Vertrag von Lausanne, mit dem 1923 die Grenzen der türkischen Republik festgeschrieben wurden, sei nicht das letzte Wort. Er werde daran arbeiten, „etwas Besseres“ zu erreichen, „auch wenn wir damit vielen auf die Füße treten“. Schon vor zwei Jahren hatte Erdogan seine in Österreich lebenden Landsleute als „Nachfahren von Kara Mustafa“ begrüßt, des Oberbefehlshabers der türkischen Belagerung Wiens 1683. Jetzt publizieren regierungsnahe türkische Medien Landkarten der „neuen Türkei“, die nicht nur Teile Syriens, des Iraks und Armeniens umfassen, sondern auch die Balkanländer und Nordgriechenland. Geht die geplante Verfassungsänderung durch, könnte sich Erdogan nach dem Ende seiner laufenden Amtszeit 2019 erneut zur Wahl stellen. An einer Mehrheit gibt es aus heutiger Sicht keinen Zweifel. So könnte Erdogan bis 2029 regieren. Er wäre dann 28 Jahre an der Macht – fast doppelt so lang wie der Staatsgründer Atatürk.