Schauspielstudenten beeindrucken in der Spielstätte Nord des Schauspiels Stuttgart mit Frank Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“.  

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Sie haben schon "männliche Regungen" empfunden. Moritz und Melchior plagen lüsterne Träume, aber mehr noch die Not: Was tun mit diesen Empfindungen? "Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung plaudern", sagt Moritz. Warum, heißt es später in "Frühlings Erwachen", ist das so kompliziert mit der Liebe? Frank Wedekinds Antwort war eindeutig: Weil die prüde Gesellschaft einen natürlichen Umgang mit der Lust unmöglich macht. Wenn er Kinder hätte, sagt Moritz, er würde Buben und Mädchen in einem Zimmer schlafen lassen. Damit sie eines Tages nicht seine Nöte durchmachen müssen.

 

Die Pubertät war nie eine leichte Sache, aber als Wedekind 1890/1891 "Frühlings Erwachen" schrieb, muss das Erwachsenwerden besonders qualvoll gewesen sein. Catja Baumann hat das Stück im Stuttgarter Nord inszeniert, aber man ahnt bestenfalls noch, dass Frank Wedekind sich gegen den Drill im wilhelminischen Kaiserreich stemmte, gegen Prüderie und eine Sexualmoral, die die jungen Leute ohne Aufklärung in ihr Schicksal rennen ließ.

Die Inszenierung will dem vor allem jungen Publikum aber nicht die "Kindertragödie" nahebringen, sondern aus "Frühlings Erwachen" wurden mundgerechte Passagen extrahiert, die sich auf die Gegenwart übertragen lassen und der Lebenswelt der Theatergänger entsprechen. Dicke Matten liegen auf der Bühne (Ausstattung: Jelena Nagorni), die den Mief der Schulturnhalle ahnen lassen, hier ist eine Disco angedeutet, dort reihen sich Matratzen wie im Ferienlager. Viel zu klein für die ungestüme Kraft, die in ihnen brodelt, ist dieser Schülerkosmos.

Sie fühlen sich verloren

Es spielen Studierende der Schauspielschule Stuttgart, die selbst kaum älter sind als die Figuren im Stück. Sie jagen über die Spielfläche, balgen sich wie junge Hunde, singen und blödeln Inszenierung - und zeigen mit diesem Übermut nur eines: wie verloren die jungen Menschen sich in ihrem Leben fühlen. Was sie antreibt, ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. "Das Leben ist die Mühe überhaupt nicht wert", heißt es, "in wenigen Jahren sind wir alle tot und vergessen". Wedekind hat das Stück zwei Schulkameraden gewidmet, die sich das Leben nahmen. Er schrieb diese Krankheit der Jugend der repressiven Gesellschaft zu. Da diese nicht mehr dem Heute entspricht, wurde im Nord das Zeitkolorit eliminiert.

So fehlt dem Stück die eigentliche Botschaft: dass die Gesellschaft ihre Mitglieder deformiert. Stattdessen ist die rasante Stuttgarter Fassung ausgeweitet auf die Nöte der Adoleszenz allgemein. Moritz leidet nicht unter dem Druck der Eltern, seine Versagensängste, seine Lebensuntüchtigkeit sind einer manifesten Depression geschuldet. Schon morgens erwacht er melancholisch. "Wir sind schrecklich verweichlicht", sagt er - und meint doch vor allem sich selbst.

Die Jugend werde "auf individuelle Karriere getrimmt", heißt es später einmal, für Solidarität sei da kein Platz. Aber man hat doch den Eindruck, dass Catja Baumann nicht Wedekinds, sondern eigentlich eine andere Geschichte erzählen wollte: die der heutigen Jugend. Dennoch ist es ein kurzweiliger Abend, bei dem die Akteure durch Präsenz und Sicherheit überzeugen. Vor allem Michel Bernd ist beeindruckend als Moritz, dieser arme Tropf, der dem Druck der Welt nicht standhält. Die dichte Inszenierung und das souveräne Spiel trösten auch über einige Platituden hinweg. So wurde die Sprache nicht immer behutsam aktualisiert, es wird von Playstation und Prinz William gesprochen, und die Schüler fragen: "Fickt unser Lehrer Gummipuppen?"

Vorstellungen am 27. und 30. September, 1., 5. bis 8., 10. bis 12., 14. bis 17., 19., 20. Oktober