Will man überhaupt wissen, was Schriftstellern, Dichtern und Denkern zum Gang des Weltgeschehens einfällt? Der Fall Grass ist einer der mangelnden Kompetenz.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Warum will man überhaupt wissen, was Schriftstellern, Dichtern und Denkern zum Gang des Weltgeschehens einfällt? Und woher beziehen sie ihre Kompetenz? Diese Fragen stellen sich immer dann, wenn wieder einer von ihnen einmal ordentlich danebengegriffen hat. Und sie stellen sich deshalb, weil im Gegensatz zu ungezählten anderen zweifelhaften Urteilen über ihres in der Regel nicht der Mantel des Schweigens fällt. Was Dichter stiften, bleibt – auch wenn es nur Verwirrung ist oder ein dürftiges Gedicht wie das jüngste, mit „Europas Schande“ betitelte von Günter Grass. Anders als erfolgreichen Sportlern, Musikern oder Firmenbossen wird ihnen eine Allzuständigkeit zugebilligt, auch wenn sie jenseits ihres Kerngeschäftes agieren, dem Schreiben guter Bücher. Die Baskenmütze Heinrich Bölls, der Robbenbart Günter Grass’, die Hornbrille Heiner Müllers sind Accessoires, die nicht nur mit bestimmten Schreibweisen der Nachkriegsliteratur verknüpft sind, sondern auch mit Ereignissen der Zeitgeschichte: dem Kampf gegen die Notstandsgesetze, Glanz und Elend der SPD, dem Zusammenbruch der DDR.

 

Wo aber liegt die Garantie, dass jemand, der unsere Seele erschließt, unsere Abgründe kennt und den Finger in die Wunden unserer Widersprüche legt, auch weiß, wo dem Griechen der Schuh drückt, wie viele Atomraketen Israel bunkert und wann es gedenkt, damit loszuschlagen?

Ein Intellektueller muss autonom sein

Seit Emile Zolas „Ich klage an“ gehört das Bild vom Schriftsteller, der das Gewissen einer Nation repräsentiert, zu den lieb gewordenen Wunschvorstellungen einer Öffentlichkeit, die offenbar selbst gewissenlos genug ist, und immer jemanden als personifiziertes Gewissen braucht. Und dafür gibt es Gründe, äußere zunächst wie Reputation, Anerkennung und Unabhängigkeit, aber auch solche, die tiefer reichen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat zwei Voraussetzungen genannt, die ein Intellektueller erfüllen muss, um als Intellektueller wirksam zu werden: Er muss einem autonomen, von der Ökonomie und Politik unabhängigen Feld des Wissens oder der Kultur angehören; und er muss in eine politische Situation jene Kompetenz einbringen, die er in diesem Feld erworben hat.

Ob Bernard-Henri Lévy, der in Frankreich die Tradition eines intellektuellen Interventionismus fortsetzt und sich nun mit einem Vorstoß zum militärischen Eingreifen in Syrien zu Wort gemeldet hat, diesen Kriterien entspricht, ist zu bezweifeln, und zwar genau in dem Maß, wie Fachkollegen die Schludrigkeiten, Irrtümer und Unwahrheiten seiner wissenschaftlichen Arbeiten monieren. Stärker entwickelt als die philosophische scheint seit geraumer Zeit die Medienkompetenz des intellektuellen Markenbrandings BHL – und der Hang, sich als Politikberater rühmen zu können, durch das eine oder andere Telefonat den einen oder anderen militärischen Schlag initiiert zu haben.

Der Autor als Schöpfer einer Welt

Die eigentliche Basis für die Autorität des dichterischen oder denkerischen Wortes liegt in dem, was darin widerklingt: „Auctoritas“. Der lateinische Begriff bedeutet einerseits „Würde“, „Ansehen“, „Einfluss“, aber eben auch Autorschaft. Ein „Auctor“ ist nun einmal nicht nur der Verfasser oder geistige Urheber eines Werkes, sondern der Schöpfer einer Welt, die von dem Lesenden als sinnerfüllt erfahren wird. Was das Verstehen eines literarischen oder philosophischen Werkes nachzeichnet, ist das vorgängige Weltverstehen des Autors. Er ist Schöpfer eines sinnvoll gestalteten Zusammenhangs.

Als Dichter vermag er Menschen dazu zu bringen, sich im Handeln fiktiver Personen wiederzuerkennen, als Philosoph, die Welt so zu beschreiben, dass sich ihre Unübersichtlichkeit der Ordnungsmacht der Begriffe beugt. Auf nichts anderem aber ruht der moralische Vorschuss, der dem Intellektuellen eingeräumt wird.

Der Dichter als Seher ist der vormoderne Ausdruck jener Einsicht, und dass sie sich mit Blindheit gut verträgt, dafür steht die Gestalt des Teiresias, der geblendet wurde, weil er verbotene Geheimnisse offenbarte: erst das Liebesleben der Götter, dann das Familienleben im Hause Ödipus’ – Griechenlands Schande, wenn man so will. Der Dichter sieht anderes und weiter als der sich im Partiellen verausgabende Experte. In der entzauberten säkularisierten Welt ist der einst von Gott inspirierte und zum Wahrsprechen Begabte zum Unheilspropheten geworden, zum Warner und Mahner, der außer einer biegsamen Sprache über einen außerordentlich ausgebildeten Zeigefinger verfügt.

Fragen von Schuld und Verantwortung

In der Wertschätzung des Intellektuellen liegt ein mythisches Erbe, seine Glaubwürdigkeit aber ist ästhetisch vermittelt. Wer in einem Roman darzustellen vermochte, wie sich beispielsweise in einer Stadt wie Danzig der Nationalsozialismus in die Gemüter gräbt, wie der Einzelne zum Handlanger der Macht wird, wer den kleinbürgerlichen Mief in ein großartiges Sittenbild zu fassen vermochte, aus dem die geschichtliche Wahrheit entgegenleuchtet, der durfte mit Recht eine Stimme beanspruchen, wenn es im Nachkriegsdeutschland darum ging, Fragen der Schuld und der Verantwortung zu klären. Und es musste schon viel passieren, dieses Anspruchs wieder verlustig zu gehen.

Wer aber halbgare oder gar unhaltbare politische Statements literarisch umdekoriert, Platituden versifiziert, wer mit der Kompetenz politischer Beobachter konkurriert, dabei aber die Qualitätsansprüche des eigenen Metiers verletzt, der diskreditiert nicht nur die Eigenart dichterischen Sprechens: auf den fällt auch der Anspruch polyglotter Zuständigkeit als Dilettantismus zurück.

Dass für beides mittlerweile der Name Günter Grass steht, ist eine Tragik besonderer Art, in der sich wahre und angemaßte Bedeutung gegenseitig kannibalisieren – ganz abgesehen davon, dass Grass nicht nur die eigenen Verdienste, sondern die seines ganzen Standes in Verruf bringt. Von dem Dichter als Seher, der in gebundener Rede den Ratschluss der Götter weiterreicht, bleibt nur die Blindheit. Antisemitisch dunkel oder philhellenisch grell klingt in Grass’ holprigen Zwischenrufen hingegen allenfalls das Echo eigener Zeitungslektüre wider. Dumpf verpufft der engagierte innere Mitteilungsdrang wie in jenen die Gesetze des lyrischen Wortes wirklich makellos beachtenden Zeilen Heinrich Heines an einen politischen Dichter: „Der Knecht singt gern ein Freiheitslied / Des Abends in der Schenke: / Das fördert die Verdauungskraft / Und würzet die Getränke.“