Orcabullen schwimmen ein Leben lang in der Gruppe ihrer Mutter. Denn selbst wenn sie schon Oma ist, beschützt sie ihre Familie. Offenbar mit Erfolg, denn nach ihrem Tod leben ihre Söhne gefährlich.

Stuttgart - Wie Muttersöhnchen sehen die bis zu neun Meter langen und mehr als sechs Tonnen schweren Orca-Männchen eigentlich nicht aus. Und doch profitieren die schwarz und weiß gezeichneten Schwertwale erheblich von ihren Müttern, in deren Gruppe sie ein Leben lang bleiben. Im Jahr nach dem Tod eines Orca-Weibchens steigt für deren Söhne jedenfalls das Risiko enorm, selbst in die ewigen Jagdgründe dieser größten aller Delfine einzugehen, berichten Darren Croft von der Universität von Exeter in England und seine Kollegen in der Fachzeitschrift „Science“.

 

Mit ihrer Untersuchung klären die Forscher gleichzeitig ein Rätsel der Biologie: Warum Orca-Weibchen noch lange nach Geburt und Heranwachsen ihrer jüngsten Nachkommen weiterleben, war eine ungeklärte Frage. Ein langes Leben nach der Menopause ist bei den Säugetieren sonst nur bei Menschen und Elefanten zu beobachten. Bei anderen Arten haben die Weibchen ihre biologische Funktion erfüllt, wenn die Nachkommen erwachsen sind.

Mensch, Elefant und Schwertwal gelten unter den Säugetieren ohnehin als Methusalems. Orca-Weibchen bekommen zum Beispiel ihr letztes Kalb oft erst nach ihrem 40. Geburtstag, werden aber selbst durchaus 90 Jahre alt. Längst haben dann die eigenen Kinder Kälber, die älteren Orca-Weibchen sind also Großmütter. Die erwachsenen Söhne zeugen Nachkommen bei kurzen Ausflügen zu anderen Schwertwalgruppen, in denen diese Enkel dann aufwachsen. Die Töchter paaren sich entsprechend mit Bullen aus fremden Gruppen, ziehen ihren Nachwuchs aber in der eigenen Familie auf. Weder Söhne noch Töchter verlassen die Gruppe ihrer Mutter.

Um den Nachwuchs der Söhne kümmert sich die Orca-Oma nicht

Evolutionsbiologen fragen sich, welche Rolle die Oma in dieser Mehrgenerationen-Gruppe spielt. Eigentlich sollten die erwachsenen Orca-Weibchen ihre Kinder auch ohne Hilfe der Großmutter erziehen können. Erwachsene Schwertwale haben schließlich praktisch keine Feinde in der Natur und greifen bisweilen selbst die gefährlichen großen Haie an.

Des Rätsels Lösung fanden die englischen Forscher, als sie die Daten genauer untersuchten, die John Ford von der Forschungseinrichtung Pacific Biological Station in Nanaimo an der kanadischen Pazifikküste seit 1974 erhebt. Regelmäßig fotografieren der Forscher und seine Mitarbeiter dort Orcas. Bis zum Jahr 2010 konnten sie 589 Tiere durch deren individuelle Färbung und die Form ihrer Rückenflossen identifizieren. Weil die Gruppen zusammenbleiben, konnten die Forscher so nicht nur die Geburten, sondern auch die verschwundenen Tiere zählen, die wahrscheinlich tot waren. Mit 297 Schwertwalen starb in dieser Zeit etwas mehr als die Hälfte der beobachteten Tiere.

Mit einem normalerweise von Lebensversicherungen verwendeten mathematischen Modell rechneten die englischen Forscher nun die Überlebenswahrscheinlichkeit jedes Tieres in einem bestimmten Alter aus – und fanden einen erstaunlichen Zusammenhang: Im ersten Jahr nach dem Tod der Mutter ist die Todesrate von Söhnen, die jünger als 30 Jahre sind, 3,1-mal höher als bei Orcabullen mit noch lebenden Müttern. Bei älteren Söhnen steigt die Sterberate sogar um das 8,3-fache. Wenn die Mutter schon lange über das gebärfähige Alter hinaus war, steigt das Sterberisiko ihrer älteren Söhne um das 13,9-fache und damit besonders stark. Bei jüngeren Töchtern ändert sich das Risiko nach dem Tod der Mutter dagegen gar nicht, erst die Weibchen über 30 Jahre haben ein nur 2,7-mal höheres Sterberisiko.

Je älter die Mutter wird, umso länger leben also die Söhne und haben in dieser Zeit mehr Chancen, eigenen Nachwuchs zu zeugen. Auf diese Weise trägt die alternde Clan-Chefin dazu bei, dass ihre Erbeigenschaften auch an ihre Enkel weitergegeben werden. Und es kommt noch ein biologischer Vorteil für sie hinzu: Während sie sich um die Nachkommen ihrer Töchter kümmern muss, weil diese in ihrer Gruppe aufwachsen, werden die Nachkommen ihrer Söhne von der Großmutter einer anderen Schwertwalgruppe versorgt. Nach der Evolutionstheorie zahlt es sich demnach für ein älteres Orca-Weibchen aus, die Söhne bei der Jagd und im Konkurrenzkampf mit Männchen aus anderen Gruppen zu unterstützen.