Nach 32 Jahren weiß Gerd Spiegel Bescheid: Welche Eigenschaften ein Bürgermeister haben muss, warum der Job ungesund und die neumodische Bürgerbeteiligung eine Sache für die nächste Generation ist, verrät er kurz vor seinem Abschied in den Ruhestand.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)
Schwieberdingen - Kraft Amtes ist es Gerd Spiegel eigentlich gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Aber Verabschiedungen sind trotzdem nicht ganz sein Fall. Er fürchtet sich ein wenig vor dem Kloß im Hals. „Man kann eine so lange Zeit nicht einfach wegwischen“, sagt der 65-Jährige. Am Donnerstag sagen die Schwieberdinger ihrem Bürgermeister offiziell Lebewohl. Mehr als drei Jahrzehnte übte er das Amt aus. Für ihn war es der Traumberuf.
Herr Spiegel, was wünschen Sie sich zu Weihnachten?
Etwas mehr Zeit für mich und meinen Körper. Ich will wieder mehr im Bereich Bewegung tun. Für einen Typen wie mich ist dieses Amt eher ungesund: Ich bin gerne bei Geburtstagen und kann das dazu gehörige Stück Kuchen einfach nicht ablehnen . . .
Haben Sie Pläne für den Ruhestand?
Nein. Ich habe mir nur vorgenommen, im ersten Jahr starke Zurückhaltung bei kommunalpolitischen Veranstaltungen zu üben. Es soll nicht das Gefühl aufkommen, ich würde meinem Nachfolger über die Schulter schauen.
Der Job scheint Ihnen viel Spaß bereitet zu haben. Sonst hätten Sie ihn nicht 32 Jahre lang gemacht. Warum?
Erstens wegen des Kontakts mit den Menschen. Zweitens: die Gestaltungsmöglichkeiten. Drittens, weil man die Gelegenheit hat, einzelnen Leuten direkt zu helfen. Schwieberdingen hatte zum Beispiel einst den Titel „Das Dorf an der Straße“. Und ich bin schon stolz darauf, dass es der Verwaltung und dem Gemeinderat gelungen ist, eine Ortsmitte zu schaffen. Ich hatte das Glück, viel realisieren zu können. Und eine Gemeinde ist ein lebendiges Wesen, nie voll-endet. Es geht immer weiter. Man kann nie sagen: Ich habe alles erledigt und gehe jetzt.
Ist Bürgermeister ein Traumjob?
Ich wollte immer Bürgermeister werden. Als ich meinen Vorgänger ein paar Mal vertreten musste, merkte ich: Das liegt mir.
Was sind die Schlüsselqualifikationen?
Man muss vor allem kontaktfreudig sein. Und auch mal vergessen können, über der Sache stehen. Nachtragend darf man auf keinen Fall sein. Kompromissfähigkeit ist wichtig. Ich bin kein Typ, der mit dem Kopf durch die Wand will. Man muss mit direkter Kritik umgehen können. Anders als Bundes- oder Landespolitiker bin ich nicht nur im Wahlkampf, sondern jeden Tag mit meinen Wählern konfrontiert.
Klingt nicht so schwer, trotzdem gibt es in Ihrer Branche Nachwuchsprobleme.
Das Problem für viele ist die Zuverlässigkeit für die eigene Zukunft. Wenn ein Bürgermeister nach der ersten Amtsperiode nicht wiedergewählt wird, steht er dumm da. Dann hat er keine Versorgungsansprüche und muss neu ins Berufsleben starten. So ein Wahlkampf ist außerdem nicht ganz billig. Heute muss ein Kandidat etwa 1,50 Euro pro Einwohner ausgeben, um Chancen zu haben. Der wesentliche Teil dafür kommt meistens aus der privaten Schatulle. Der Verzicht auf Freizeit ist auch ein Problem für die jungen Leute. Ein Bürgermeister ist abends eher selten zu Hause. Deshalb muss die Familie mitmachen. Überhaupt ist man in diesem Beruf nur selten rein privat. Allerdings ist so ein Amt wiederum mehr als ein reiner Beruf. Wenn es gut läuft, fühlt man sich als Mensch und nicht nur als Bürgermeister akzeptiert.
In Schwieberdingen standen die Kandidaten quasi Schlange, es gab sechs Bewerber. Was macht die Kommune so attraktiv?
Schwieberdingen hat ein sehr gutes Vereinsleben und interessante Einrichtungen zum Weiterentwickeln wie die Musikschule. Wir haben eine ganz moderne Gemeinschaftsschule und die gut funktionierende Verwaltungsgemeinschaft mit Hemmingen. Und wir haben mit Bosch einen großen Arbeitgeber. Wenn man mehr als 5000 Arbeitsplätze am Ort hat, darf man als Bürgermeister prinzipiell guter Hoffnung sein. Und auf meinen Nachfolger warten spannende Aufgaben, etwa der Kindergarten-Neubau oder der Hochwasserschutz.
Wären Sie gerne länger im Amt geblieben?
Nein, nein. Es ist ganz gut, dass man Grenzen setzt und dass für die Gemeinde eine neue Zeit beginnt. Neue Leute bringen neue Ideen.
Welche Ideen?
Es wird sicherlich eine Aufgabe für meinen Nachfolger sein, verstärkt für mehr Bürgerbeteiligung zu sorgen. Die Jüngeren gehen da ja ganz offen mit um, während es für meine Generation etwas schwierig ist. Wir sind davon geprägt, dass der Bürgermeister die Ideen bringt, der Gemeinderat entscheidet und die Verwaltung vollzieht. Heute sind solche Prozesse viel intensiver und auch anstrengender, weil sehr viel mehr Menschen mitreden wollen. Am Ende hat man das Problem, dass die Enttäuschung womöglich groß ist, weil das Ergebnis nicht den ursprünglichen Vorstellungen entspricht. Oft wird vergessen, dass der Gemeinderat das entscheidende Gremium in der Kommunalpolitik ist. In dem Zusammenhang fand ich auch die Beteiligung von knapp 50 Prozent bei der Bürgermeisterwahl enttäuschend: Da fordert man immer Bürgerbeteiligung, und wo ist das besser möglich als bei der Bürgermeisterwahl?
Was ist die größte Veränderung im Laufe Ihrer Amtszeit gewesen?
Der Bürger ist selbstbewusster geworden, er kennt seine Rechte und vertritt seine Ansprüche intensiver. Da geht es meistens um das übliche tägliche Brot: Wer darf vor meinem Haus parken, machen Kinder zu viel Lärm, ist die Hecke zu hoch? Manchmal wünsche ich mir etwas mehr gegenseitige Rücksichtnahme und Verständnis.
Und was war Ihre schönste Erfahrung?
Es sind wirklich diese Geburtstage gewesen. Für mich waren die Jubilare immer wie lebendige Geschichtsbücher. Da kann man unheimlich viel mitnehmen.