Ein 30-jährigen Heilerziehungspfleger ist am Stuttgarter Landgericht wegen Vergewaltigung angeklagt: Der Sohn eines früheren Vorstands soll jahrelang mehrere Frauen in der Deckenpfronner Einrichtung für behinderte Menschen sexuell missbraucht haben.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Deckenpfronn - Die Mutter eines der Opfer muss sich immer wieder bremsen. Im Verfahren gegen einen 30-jährigen Heilerziehungspfleger, der auch ihre Tochter in der Dorfgemeinschaft Tennental sexuell missbraucht haben soll, sprudeln die Vorwürfe gegen die Einrichtung nur so aus ihr heraus. Ob der Angeklagte nachts in ihre Zimmer und ihr Bett kommen dürfe, fragte die damals 20-Jährige bereits vor 15 Jahren ihre Mutter. Als sexuelle Fantasien seien die Äußerungen der mit dem Downsyndrom auf die Welt gekommenen jungen Frau abgetan worden. Sie habe sogar ein Eingeständnis unterschreiben müssen, dass sie lüge, berichtete die Mutter in dem Verfahren am Stuttgarter Landgericht. „Niemand in der anthroposophischen Welt kann sagen, von nichts gewusst zu haben“, lautet ihr Vorwurf.

 

Als Geheimnis mit sich herumgetragen

Über Jahre hinweg missbrauchte der Heilerziehungspfleger unbehelligt acht Bewohnerinnen der Dorfgemeinschaft in Deckenpfronn, seine letzte Tat verübte er im vergangenen Oktober. Erst durch eine Selbstanzeige Anfang diesen Jahres kamen die Vergehen ans Licht. Er wolle reinen Tisch machen, sagte er bei der Vernehmung dem Polizisten: „Ich habe ein halbes Leben lang dieses Geheimnis mit mir herumgetragen.“

Der Angeklagte kam 1994 mit den Eltern nach Tennental, nach ihrer Trennung besuchte er regelmäßig den Vater, der als Leiter einer Hausgemeinschaft und lange als Vorstand des Vereins tätig war. Später war er erst als Aushilfe, dann als Fachkraft mit Unterbrechungen in der Dorfgemeinschaft angestellt. Immer wieder sollen dem Vater von Bewohnerinnen Übergriffe des Sohnes gemeldet worden sein, die er nicht weitergeleitet haben soll. Eine Betroffene habe geäußert, dass der Vater den Sohn einmal bei einem Missbrauch erwischt habe, berichtet der als Zeuge geladene seit 2018 amtierende Geschäftsführer der Einrichtung. Die Lebensgefährtin des Vaters soll den Angeklagten ebenfalls ertappt haben. Beide müssen sich in einem anderen Verfahren verantworten.

Berichte über nächtliche Besuche

Im Jahr 2010 kam es zwar zu einer Untersuchung wegen der Berichte über die nächtlichen Besuche durch eine Fachfrau des übergeordneten Verbandes. „Sie kam leider nicht zum richtigen Ergebnis“, sagte der neue Leiter. Auch das daraufhin eingeführte Konzept zur Gewaltprävention verhinderte die weiteren Taten nicht. Für den zuständigen Mitarbeiter waren die Erzählungen der Frauen nur „Gerüchte“. Von der Bewohnerin mit dem Downsyndrom hielt er sich fern, weil er Angst hatte, sie könne sich als nächstes in ihn verlieben, sagte er vor Gericht.

Der Angeklagte räumte zwar zum Prozessauftakt über eine Erklärung seines Anwalts alle Vorwürfe der Anklage ein. Selbst will er aber keine Angaben machen. Laut seiner Aussage bei der Polizei ging er im Alter von 15 Jahren das erste Mal nachts in das Zimmer einer Bewohnerin, überredete sie dazu, sich auszuziehen und versuchte, in sie einzudringen. Aufgrund ihrer geistigen Behinderung soll sie kaum in der Lage sein, sich zu artikulieren. Fünf Jahre später soll er eine andere Frau vergewaltigt haben. Zur Frage, ob sie Sex mit ihm möchte, habe sie nein gesagt und versucht, ihn mit den Händen wegzustoßen. Auch oralen Geschlechtsverkehr verlangte er und begrapschte seine geistig behinderten Opfer. Sie hätten es über sich ergehen lassen. „Ich fühlte mich nach jedem Übergriff schlecht“, sagte er dem Polizist.

Persönlichkeit hat sich verändert

Die heute 35-jährige Frau mit dem Downsyndrom spielte am Anfang anspruchsvolle Rollen in der Theatergruppe der Einrichtung, mit der Zeit wurde sie immer unsicherer, habe angefangen zu stottern und in ihren Fähigkeiten abgebaut. „Ich sagte immer: Da stimmt was nicht in Tennental“, erklärte ihre Mutter vor Gericht. Ihre Tochter leide nach wie vor unter Flashbacks, einem Wiedererleben der Übergriffe. Sie wohnt mittlerweile in einer anderen Einrichtung. „Es wäre heute nicht mehr so, wie es damals offensichtlich war“, versicherte der neue Geschäftsführer der Dorfgemeinschaft – dass versucht werde, sexuellen Missbrauch intern zu bearbeiten.